Hans Magnus Enzensberger: Für immer jung

Auch heute gut zu gebrauchen: Einer, der allenthalben Reize und Reizungen versprüht und Zusammenhänge stiftet. Autor Hans Magnus Enzensberger feiert seinem 80. Geburtstag.

Hans Magnus Enzensberger bei der Verleihung des Ludwig-Börne-Preises im Jahr 2002. Bild: dpa

Es ist ein eigentümlicher Reflex, Literaturgeschichte stets im Modus des Verlustes zu erzählen. Das gilt selbst für einen vergleichsweise kurzen Zeitraum, wie den von 1945 bis heute. Die Zeit scheint vorbei, in der Autoren wie Grass, Walser oder andere Schwergewichte nicht nur die literarische Kultur, sondern die gesellschaftspolitische Debatten prägen konnten. Das hat natürlich schlicht auch biografische Gründe. Eins dieser intellektuellen Schwergewichte, Hans Magnus Enzensberger, der heute seinen 80. Geburtstag feiert, hat seine Zuständigkeit als Beobachter und Kommentator der Gegenwart schon vor ein paar Jahren zur Disposition gestellt.

Nun könnte man frech fragen, ob die Geschichte der Literatur als Verlustgeschichte denn überhaupt zwingend als melancholische erzählt werden muss - sie kann ja auch durchaus etwas Entlastendes bergen. Und man könnte probeweise auch einmal anders herum fragen: Würde das, womit Enzensberger in den vergangenen fünf Jahrzehnten zur der wichtigen Stimme wurde, heute überhaupt von Belang sein? Gerade bei ihm ist diese Frage interessant durchzuspielen. Denn der 1929 Geborene ist in vielerlei Hinsicht der modernste Autor, den Nachkriegsdeutschland zu verzeichnen hat, vielleicht sogar der postmodernste. Er hat seine Arbeitsprämissen selbst immer wieder neu vermessen; und während man den gerade bei Suhrkamp erschienenen Band mit seinen gesammelten Literaturessays nachliest ("Scharmützel und Scholien. Über Literatur", Suhrkamp, 924 Seiten, 25 €), kann man sich schließlich auch fragen, was es von diesen Standortvermessungen für heute zu lernen gibt.

Gerade einmal 33 Jahre alt war er, als er 1963 den Büchnerpreis erhielt, die damals noch mehr als heute prestigeträchtigste Auszeichnung für deutschsprachige Literatur. Gerade einmal zwei eigenständige literarische Buchveröffentlichungen im engeren Sinne hatte er da vorzuweisen. Als Stimme der neuen Generation, als angry young man und zugleich als Nachfolger von Brecht und Benn wurde er so inthronisiert. Aber das ist alles wirklich sehr alte Bundesrepublik. Der aktuelle Punkt liegt eher in Enzensbergers quirliger intellektueller Statur.

Literarisch, so nennt Enzensberger das selber, sei er eher ein Kurzstreckenläufer, deshalb liege ihm das Format des Gedichts mehr als das des Romans. Aber was für ein ausdauernder Sprinter er ist! Nicht nur, dass er permanent ins Rennen ging, sondern er durchquerte auch die Felder und Arenen in alle Richtungen und auf allen Ebenen. Über Brentano promoviert und früh als Hörfunkredakteur beim Radio tätig, verstand er nicht nur etwas von Literatur und den neuen Medien. Er durchschaute auch die Gesetze des literarischen und öffentlichen Lebens und wusste sich aufs smarteste in ihnen zu bewegen - er tanzte gern oder ging auch mal mit Chruschtschow schwimmen. Was damals argwöhnisch machte, kann man von heute kaum anders als eine Schlüsselkompetenz verstehen. Vom Elfenbeinturm aus ist wenig einzuspeisen in die Wahrnehmungsschleusen der durchmedialisierten Welt, und warum sollte man diese Kanäle den anderen überlassen?

Was ihn dabei aber eben auch ausmachte und der intellektuellen Phrasendrescherei meistens Substanz verlieh: Ihm war immer auch eine kritische Neugier eigen, ein Wille, sich mit den Erscheinungen, auf die er traf, auseinanderzusetzen. Vor allem, wie er selbst betont hat: ihre Mechanismen zu verstehen. Seine frühen medienkritischen Schriften argumentieren von heute aus gesehen zwar noch arg im Sinne einer adornitisch geprägten Kritik an der Kulturindustrie. Wie er aber in seinen Essays über die FAZ und den Spiegel ganz konkret vorführte, mit welchen Mitteln von zwei der zu den seriösesten zählenden Blättern unter dem Deckmantel der Objektivität Meinungsmache betrieben wurde, das war eine Medienkritik, die nicht nur in der Öffentlichkeit der Fünfziger- und Sechzigerjahren zu Recht für Aufsehen sorgte. Manche aktuellen Verlautbarungen zu Facebook oder anderen neuen Formaten lesen sich dagegen geradezu altbacken, oberschlau tuend und von vornherein durchschaubar; man könnte wehmütig werden.

Dass Enzensberger bald auch selbst als Essayist in den Blättern auftauchte, denen er eben noch journalistischen Eiertanz vorgeworfen hatte, war natürlich Wasser auf die Mühlen derer, die in ihm schon längt den Karrieristen erkannt haben wollten. Habermas Ende der Sechzigerjahre formulierter Vorwurf, Enzensberger würde sich der Verantwortung für die Reize entziehen, die er mit seinen Texten auslöse, kann man schon auf diese frühen Beispiele anwenden. Die Frage aber ist, ob man ihm mit so einer moralisierenden Kategorie gerecht wird. Ist es nicht erst mal schon eine ganze Menge, wenn sie in der Lage sind, solche Reize zu streuen und für Zeiterscheinungen und Widersprüche zu sensibilisieren?

Einer der nachhaltigsten Reize ging von seinem Essay aus, der 1968 in dem von ihm herausgegebenen Kursbuch erschien, lapidar überschrieben mit dem Titel "Gemeinplätze, die neueste Literatur betreffend." Als Text über den "Tod der Literatur" ist er in die Annalen eingegangen. Er führte zu Siegfried Unselds Bruch mit dem Kursbuch, das seit 1965 im Suhrkamp Verlag erschienen war. Nicht dass Enzensberger es nötig hätte, dass man ihn rehabilitiert. Aber was er mit diesem Text vorlegt, ist nichts anderes als eine unaufgeregte Auseinandersetzung mit der deutschen Nachkriegsliteratur (ein wenig polemischer tat er das zur selben Zeit in seinen Frankfurter Poetik-Vorlesungen). Der Essay mündet in ein Plädoyer für die Literatur als Kunstwerk, das sich nicht durch gesellschaftspolitische Aufträge rechtfertigen dürfe, sondern einzig nach ästhetischen Maßstäben zu messen sei. Von wegen Tod der Literatur!

Ein Plädoyer also für die Literatur und gegen die Politik. Das indes war durchaus provokant im Umfeld der 68er Bewegung, mit der Enzensberger ja auch auf Tuchfühlung ging. Seltsam eigentlich, dass Enzensberger gerade auch in dieser Sache bis heute für seine angebliche Wendehalslogik angegangen wird. Eher könnte man darin doch das Antiideologische des modernen Intellektuellen sehen, der sich jenseits festgefahrener politisch-moralischer Gut-und-böse-Zuschreibungen den Blick für das Gegenwärtige bewahrt. Auf diese Weise konnte eben jemand, der angezogen vom Revolutionsversprechen die Jahre 1968 und 1969 auf Kuba verbrachte, zurückgekehrt einen Aufsatz über das Scheitern der sozialistischen Utopie schreiben.

Natürlich sind seine Unbekümmertheit als Autor, die nicht nur Habermas, sondern mit ihm viele Zeitgenossen irritierte, und sein Gespür für Provokation ihm immer auch eine Lust gewesen. Nicht zufällig ist sein liebstes Selbstbild das vom Fliegenden Robert, der sich immer vor die Tür wagt, wenn es besonders stürmisch ist. Umgekehrt gelesen steckt darin eine Anleitung zum Fliegen, zum Rausch.

Rauschhaft kann man auch Enzensbergers Impuls finden, sich immer und überall zuständig zu fühlen. Vermutlich ist es zu einem guten Teil auch eine Form der Überkompetenz, die verdächtig ist. Sie hat aber dazu geführt, dass Enzensberger nicht nur Autor blieb, sondern zum Initiator wurde. Was er als Herausgeber auf die Beine gestellt hat, ob nun das Kursbuch, die Andere Bibliothek oder das "Museum der modernen Poesie" aus dem Jahr 1960, eine internationale Anthologie moderner Lyrik, spricht nun wiederum für eine kulturelle Sorgfaltspflicht, die weit über den eigenen Vorgarten hinausreicht.

Jenseits davon, was man von einzelnen seiner Verlautbarungen nachträglich halten mag: Hans Magnus Enzensberger ist auf emphatisch Weise Projektemacher. Im Sinne des Kurzstreckenlaufs - den man als Ausdruck einer genuin modernen Haltung verstehen kann - ist sein immer wieder neues Erproben von Formaten, Themen und Thesen nur konsequent, auch in ihrem Fehlgehen. Schillernd verkörpert Enzensberger damit das Prinzip eines produktiven Typus, der allenthalben Reize und Reizungen versprüht und Zusammenhänge stiftet. Diesem Prinzip widerspricht ganz offensichtlich allein strukturell jede Form der Musealisierung.

Nimmt man sich Enzensberger zum Beispiel, sollte also mit Blick auf die gegenwärtige Lage der Literatur und ihrer Autoren weniger eine Verlustrechnung aufgemacht werden. Sondern es sollte davon die Rede sein, dass im Projekt Gegenwartsliteratur eine Planstelle offen ist, die dringend wieder zu besetzen wäre. Neu vermessen, konsequent ausprobieren, konsequent scheitern: Schon irgendwie lustig festzustellen, aber das letztlich Wichtigste, was man von diesem nun 80-Jährigen lernen kann, ist es, jung zu sein.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.