Demografie-Forscher Joshua Goldstein: "Familienpolitik keine treibende Kraft"

Die Geburtenraten in Europa steigen wieder. Joshua Goldstein, Direktor des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung in Rostock, erklärt im Interview warum – und warum nicht.

"kaum belegbarer Zusammenhang zwischen Politik und Geburtenrate" Bild: Menno Hordijk – Lizenz: CC-BY-ND

Herr Goldstein, sterben die Deutschen nun doch nicht aus?

Joshua Goldstein: Ich denke nicht, dass dies je zur Debatte stand. Davon abgesehen zeigen unsere Studien, dass der Bevölkerungsrückgang langsamer ist, als man bislang vermutet hat. 2002 hatten wir noch 16 europäische Länder mit einer Geburtenrate von unter 1,3 Kindern pro Frau. 2008 gibt es davon nur noch eines - Moldawien. Speziell in Ostdeutschland hat sich die Geburtenrate stark erholt. In Westdeutschland dagegen hat sich der europäische Trend zu höherer Fertilität bislang nicht durchgesetzt: Hier liegt die Rate schon länger knapp unter 1,4 Kindern pro Frau.

Westdeutschland war das erste Land, in dem 1985 ein Rekordtief von unter 1,3 Kindern pro Frau gemessen wurde. Ist Westdeutschland anders?

Wir gehen davon aus, dass der Trend zur steigenden Geburtenrate auch in Westdeutschland ankommt. Alles andere wäre eine Überraschung. Aber wir müssen abwarten.

Als Hauptgrund für die steigenden Geburtenraten benennen Sie den "Tempoeffekt".

Genau, der Tempoeffekt besagt, dass die jährlichen Geburtenzahlen sinken können, weil Frauen erst später im Leben Kinder bekommen. Dieser Tempoeffekt wird immer schwächer, wenn der Aufschubprozess sich verlangsamt. Diese Verlangsamung scheint nun einzutreten, da das Durchschnittsalter bei Erstgeburt nicht deutlich über Anfang 30 steigen wird.

War der Tempoeffekt hierzulande unbekannt, als die düsteren Prognosen zur Zukunft Europas erstellt wurden?

Tempoeffekte sind in der Wissenschaft schon lange bekannt, wurden aber nicht immer bei den Prognosen berücksichtigt. Doch auch in Kenntnis des Tempoeffekts bleibt festzuhalten: Die Bevölkerung schrumpft, denn die Frauen bekommen im Schnitt weniger als zwei Kinder. Sie schrumpft nur nicht so schnell wie gedacht, und das ist entscheidend.

Welchen Anteil haben die Migrantinnen daran?

Einen geringen. In Italien haben die Immigrantinnen zwar die Geburtenrate stärker positiv beeinflusst als etwa in Spanien. Insgesamt aber fällt die oft höhere Kinderzahl von Immigrantinnen statistisch weniger ins Gewicht, als man erwarten würde.

Eine gängige These ist, dass die Spätgebärenden nur noch ein Kind "schaffen", die Geburtenrate also biologisch bedingt ist.

Dies lässt sich statistisch nicht belegen. Es mag vielleicht Frauen geben, die ihr erstes Kind mit 39 bekommen und dann finden, dass es für ein zweites leider zu spät ist. Doch für die Mehrheit der Bevölkerung spielen andere Faktoren eine Rolle.

Etwa das Elterngeld?

Wir glauben nicht, dass Familienpolitik eine treibende Kraft ist. Nach unseren Erkenntnissen gibt es kaum einen belegbaren Zusammenhang zwischen Politik und Geburtenrate. Der einzige wirklich erkennbare Zusammenhang scheint zwischen der allgemeinen wirtschaftlichen Lage eines Landes und der Fertilität zu bestehen. In Osteuropa brachen die Geburtenraten 1990 mit dem Umbruch der Systeme zusammen. Steigende Arbeitslosenzahlen lassen überall die Geburtenraten fallen. Umgekehrt scheint das Ende des Geburtenaufschubs mit der wirtschaftlichen Erholung bis 2008 zusammenzuhängen.

Was wird also die Wirtschaftskrise seit 2008 bewirken?

Wir vermuten, dass die Zahl der Geburten kurzfristig wieder fällt. In ein paar Jahren sollte sich die Rate aber wieder erholen. Die Länder, in denen die Geburten besonders stark angestiegen sind, wie Italien und Griechenland, dürften wegen der besonderen Schwere der Wirtschaftskrise nun die stärksten Schwankungen erleben.

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