Missbrauchsskandal Odenwaldschule: Gefahr im Bildungsidyll

Die Vorkommnisse an der Odenwaldschule bringen etablierte Elite-Internate in Erklärungszwang. Sie wissen: Gerade die familiäre Atmosphäre macht Missbrauch möglich.

Sonnenuhr am Dach eines der Odenwaldschul-Gebäude. Bild: reuters

Ein See, ein Segelboot, und zwischen dem satten Grün der Bäume lugt weiß das Herrenhaus hervor. Abgeschiedenheit und Geborgenheit verspricht das Katalogbild, mit dem das Gymnasium und Internat Louisenlund für sich wirbt. Seit über 60 Jahren wird hier gelehrt. Den zurzeit 360 Zöglingen werden neben dem Schulstoff auch Werte eingepflanzt: Mut, Leistungswille und Gemeinsinn.

Doch die Idylle ist in Gefahr. Seitdem am Wochenende bekannt wurde, dass sich nicht nur Priester, sondern auch Reformpädagogen an der hessischen Odenwaldschule an ihren Schülern vergangen haben, holt man auch in Louisenlund die alten Akten wieder aus dem Schrank. "Bislang sind keinerlei Vorfälle bekannt", versichert nach intensivem Aktenstudium der Leiter des Internats, Werner Esser.

Er ist vor zwei Jahren vom baden-württembergischen Salem nach Schleswig-Holstein gezogen. Von Elite-Internat zu Elite-Internat. Auch diese beiden Häuser sind wie Odenwald von einem Reformpädagogen, von Kurt Hahn, konzipiert. Die Missbrauchsfälle tauchen die gediegenen Anstalten in ein unangenehmes, ein grelles Licht. "Es ist ein Vertrauenseinbruch", räumt Esser ein.

Der Schulleiter hat sich deshalb in der montäglichen Schulversammlung dem Thema Missbrauch diplomatisch gewidmet und die Schüler gebeten, sich wegen der auftretenden Turbulenzen vertrauensvoll an ihn und die Kollegen zu wenden. Am gleichen Tag gingen Briefe an alle Eltern raus.

Rund 2.500 Euro bezahlen diese jeden Monat für den tröstlichen Gedanken, ihre Kinder in bester pädagogischer Betreuung zu wissen. In "familiärer Lernatmosphäre" kümmert sich ein Lehrer in Louisenlund um höchstens 20 Schüler. Doch was Internate wie Louisenlund auszeichnet, macht sie auf der anderen Seite anfälliger für sexuellen Missbrauch: die Nähe zwischen Betreuenden und Betreuten.

"Es gibt ein ausgeprägtes Abhängigkeitsverhältnis zwischen Lehrern und Schülern. Umso härter ist der Bruch, wenn das Vertrauen verletzt wird", sagt die Vorsitzende des Deutschen Kinderschutzbundes, Paula Honkonen-Schoberth. Wichtig sei, dass die Schulen offen mit dem Thema umgingen, dass es klare Regeln gebe, wie mit Missbrauchsfällen umgegangen werde und Schüler wüssten, an wen sie sich wenden. Nicht alle Internate würden das sorgfältig und offen genug tun. "Die Sorge um den guten Ruf führt oft dazu, dass das Thema unter den Tisch gekehrt wird", sagt Honkonen-Schoberth. Einen offenen Umgang fordert jedenfalls Mario Lehmann, Gründer des Internats Schloss Torgelow bei Waren an der Müritz und in dritter Generation Träger des Kurpfalz-Internats in der Nähe von Heidelberg. Wie Louisenlund liegen auch diese ländlich abgelegen und in ähnlicher Preisklasse.

Aus der Zurückgezogenheit geht Lehmann nun in die Offensive. Man sei im Gespräch mit dem Elternbeirat und den Eltern, denn "je offener die Kommunikationsstruktur, desto schwieriger ist es, Missbrauch zu vertuschen". Für den Fall, dass Schüler Probleme hätten, gebe es mehrere Ansprechpartner, zuallererst die Internatsmentoren. In Louisenlund ist zusätzlich ein Psychologe die ganze Zeit im Haus.

Dieses "Mehr Augen sehen mehr"-Prinzip brachte Odenwald kurioserweise negative Schlagzeilen. Die Alarmsysteme, die installiert wurden, als vor zehn Jahren die pädophilen Neigungen des damaligen Schulleiters aufflogen, läuteten kurz vor dem 100. Jubiläum erneut: um weitere Fälle aus dieser Ära zu melden. Honkonen-Schorberth begrüßt diese freiwillige soziale Kontrolle. Ist sie doch nachhaltiger, als sporadische Kontrollgänge misstrauischer Schulaufsichtsvertreter es sein können.

Bei den aufgedeckten Übergriffen handelt es sich nach Überzeugung von Internatsvater Lehmann um Einzelfälle. Gleichwohl: "Wir sind uns dessen bewusst, dass es ein gewisses Risiko gibt, dass sich Menschen mit pädophilen Neigungen in Internate einschleichen." Deshalb prüfe er seine Angestellten sehr genau, die Einstellungspolitik sortiert Singles aus: "Wir stellen nur Mitarbeiter ein, die sich in einer Familiensituation befinden, einen Partner haben oder Kinder."

Eine Strategie, die naheliegt und gleichzeitig eher auf Hoffnung denn auf Erfahrung beruht. Denn diejenigen, die sich an Minderjährigen vergehen, kommen überwiegend aus ihrem sozialen Umfeld: aus der Schule, dem Sportverein und am häufigsten - aus der Familie.

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