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Archiv-Artikel

In der Touristen-Falle

BESUCHER Jedes Jahr strömen mehr Gäste in die Stadt. Dabei entdecken sie auch jene Orte, die die Berliner nur für sich haben wollen. Das ist kein Grund, wütend auf sie zu sein

Boomende Besuche

■ Am kommenden Mittwoch wird Wirtschaftssenatorin Cornelia Yzer (CDU) die Tourismusbilanz für das Jahr 2012 präsentieren. Sehr wahrscheinlich wird es wieder einmal Rekordzahlen geben: Laut bisherigen Schätzungen der Marketinggesellschaft visitBerlin ist die Zahl der Besucher gegenüber dem Jahr 2011 um rund zehn Prozent gestiegen – auf erstmals mehr als zehn Millionen.

VON BERT SCHULZ

Wenn eine Straße zur Touristenmeile wird, ist ihr Schicksal besiegelt: An der Oranienburger Straße in Mitte, in den 90ern Ost-Berlins Szenemeile ausgehend vom Tacheles, reiht sich heute ein 08/15-Restaurant ans nächste. Ähnlich ist das Bild in der Friedrichshainer Simon-Dach-Straße, wo die jüngeren Berlin-Besucher saufen gehen. Und die, die sich für etwas hipper halten, entdecken langsam, aber sicher die Weserstraße in Neukölln. Für die meisten Berliner in der Innenstadt werden diese Ecken damit zu No-go-Areas. Besonders ärgerlich ist das, wenn man selbst dort wohnt. Bisweilen werden Berlin-Besucher deshalb übel beschimpft.

Touristen erscheinen als eine Art moderner Eroberer, die sich in bestimmten Vierteln einnisten und nicht eher Ruhe geben, bis all das wieder verschwunden ist, was sie einst gesucht haben: kleine Kneipen (die durch Systemgastronomie ersetzt werden), Stadtbrachen (die mit Einkaufszentren zugekleistert werden), inhabergeführte Läden (die globalen Modeketten weichen).

Am Schluss sind auch die Wohnungsmieten so gestiegen, dass sich selbst die Mittelschicht das Leben dort nicht mehr leisten kann. Wegbereiter dieser Entwicklung sind – im wahrsten Sinne des Wortes – Reiseführer, die mit „Geheimtipps“ werben und junge oder sich jung fühlende Besucher an diese Orte locken. Das scheint zu klappen: Die Zahl der Berlinbesucher steigt seit 1990 stetig, und die Zahlen für 2012, die in der kommenden Woche präsentiert werden, dürften den Trend fortschreiben.

Dieses Bild vom bösen Touristen ist schön, weil es so einfach ist. Aber wer daran glaubt, macht es sich zu leicht.

Kieze brauchen Touristen

Da ist zum einen die Bedeutung der Besucher für die Wirtschaft, gerade in den Kiezen. Nur weil die Tourismuswerber und die Wirtschaftssenatorin es mantramäßig wiederholen, ist das Argument nicht falsch. Junge Kreative im Mode- und Designbereich zum Beispiel, die oft von wenig Geld leben, sind darauf angewiesen, dass Besucher aus wohlhabenderen Städten bei ihnen einkaufen. Das Flair, das bestimmte Viertel bieten, kann in Teilen nur bestehen, weil es mit Geldern von außerhalb finanziert wird.

Viel bedeutsamer ist jedoch die Funktion von Touristen, wenn es um den Stand der Stadtentwicklung geht. Berlin war in den vergangenen 20 Jahren eine extrem schnelllebige Stadt, gerade im Bereich der Kultur und Subkultur. So fix wie angesagte Orte wechselten, hatten Reiseführer keine Chance, die Besucher auf dem aktuellen Stand zu halten. Und wenn dann doch mal Touris in Massen im Lieblingsclub auftauchten, war klar: Hier ist ein Ort Geschichte geworden.

Heute ist niemand mehr auf gedruckte Reiseleiter angewiesen: Spannende Orte und Ereignisse werden in Foren und auf Facebook gepostet, weltweit für alle nachlesbar. Verheimlichen lassen sie sich nicht mehr. Touristen profitieren hier von einer allgemeinen Entwicklung, ihre Ankunft etwa im Club Berghain ist aber nur eine Folge davon.

Diese Entwicklung hat auch etwas Schönes: Klassische Sehenswürdigkeiten (Brandenburger Tor, Reichstag, Potsdamer Platz usw.) werden ergänzt durch den Versuch, Berliner Alltag zu erleben. Und wenn diese Stadt durch etwas glänzen kann, dann dadurch. Lange diskutierten Rucksacktouristen in aller Welt darüber, ob man sich als einfacher Tourist begreift oder als Traveller, der hinter die Fassade blicken will. Diese Debatte ist zumindest für Berlin entschieden.

Steuerung ist gut

Das heißt nicht, dass Senat und Bezirke touristische Entwicklungen nicht steuern sollten, etwa bei Genehmigungen für neue Hotels, Hostels und Ferienwohnungen in Kiezen. Oder dass man nicht die viel diskutierte City-Tax nutzen kann, um (Sub-)Kultur zu fördern. Aber lenken oder gar abweisen lassen sich Besucher nicht mehr.

Man würde es ja selbst nicht wollen. Wer in ein anderes Land, eine andere Stadt reist, möchte auch darin eintauchen. Es gilt: Jeder Mensch ist Tourist, fast überall.

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