Fall Kevin vor Gericht: Der Stellvertreter-Prozess

Vor dem Landgericht Bremen begann gestern das Verfahren gegen den Amtsvormund des zweieinhalbjährigen Kevin, der von seinem Ziehvater getötet wurde.

Der Angeklagte Bert K. (li.) im Gerichtssaal, während sich die Kameraleute auf den Richtertisch stürzen. Bild: dpa

Kevin. Es ist ein Name, der bis heute republikweit das Thema Kindesmisshandlung versinnbildlicht. Der stellvertretend für das Versagen sozialer Dienste steht. Der Bremen nachhaltig verändert hat. Kevin. Gut vier Jahre nachdem das zweieinhalbjährige Kind halb verwest in einem Kühlschrank gefunden wurde, begann gestern vor dem Bremer Landgericht der Prozess gegen den Amtsvormund des Jungen. Der war von seinem Ziehvater B. seinerzeit so schwer misshandelt worden, dass er zahlreiche Knochenbrüche davontrug und daran starb. B. ist dafür schon 2008 vom Landgericht Bremen wegen Körperverletzung mit Todesfolge und Misshandlung von Schutzbefohlenen zu zehn Jahren Haft verurteilt worden. Außerdem wurde er in eine Entziehungsanstalt eingewiesen.

Bert K., heute 67 und Rentner, muss sich nun wegen fahrlässiger Tötung verantworten. Weil er es sorgfaltswidrig versäumt habe, das Kind rechtzeitig dem suchtkranken B. wegzunehmen. So formuliert es die Anklage. Spätestens im Februar 2006 - mehrere Monate bevor Kevin vermutlich gestorben ist - hätte K. erkennen müssen, dass "dringende Gefahr" für Leib und Leben des Kindes bestanden habe. Als die Polizei ihn schließlich abholen wollte, war Kevin lange schon tot. Detailliert rekonstruiert die Anklageschrift sein kurzes Leben, listet von Geburt an all die "Alarmzeichen" auf, all die warnenden Stimmen von Ärzten und Richtern, Polizisten oder Sozialarbeitern, die dafür sprachen, das Kind "unverzüglich und dauerhaft" seinen Eltern wegzunehmen.

K. gab am ersten Verhandlungstag lediglich eine kurze Erklärung ab. Er trauere um den Tod Kevins, kein Tag sei seitdem vergangen, an dem er nicht an ihn gedacht habe. "Ich frage mich, was ich falsch gemacht habe", sagt er mit fester Stimme, und dass er sich am nächsten Prozesstag ausführlicher äußern will. Zugleich erhebt er selbst Anklage gegen den Staat: "Warum sind wir Amtsvormünder mit einem Übermaß an Verantwortung im Stich gelassen worden?" Für 230 Menschen war er seinerzeit zugleich verantwortlich, für Kevin erst wenige Monate vor dessen Tod. 230 Vormundschaften, das war damals ein für Bremen durchschnittlicher Wert. Heute sind es immer noch 90. Zum Vergleich: In Berlin, ebenfalls Stadtstaat, ebenfalls Haushaltsnotlageland, sind es derzeit rund 70. Anfang des Jahres hat Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) einen Entwurf für ein neues Vormundschaftsrecht vorgelegt. Demnach soll kein Amtsvormund mehr als 50 Menschen betreuen.

Neben Bert K. sollte Kevins Fallmanager J. auf der Anklagebank sitzen. Immer wieder spricht die Staatsanwältin in ihrer Anklage von "dem Beschuldigten" J. Doch der 58-Jährige ist so krank, dass er schon vor dem 2006 eingesetzten Parlamentarischen Untersuchungsausschuss der Bremischen Bürgerschaft nicht aussagen konnte. Das Verfahren gegen ihn am Bremer Landgericht wurde nun eingestellt - weil er laut mehreren ärztlichen Gutachten dauerhaft verhandlungsunfähig ist. K. ist jetzt derjenige, der stellvertretend für das System vor Gericht steht, das Versagen eines Jugendhilfesystems personifiziert, in dem viele über Kevins Schicksal Bescheid wussten, bis hin zum Bürgermeister. K. soll dem so schwer Fasslichen ein öffentliches Gesicht geben, persönliche Verantwortung übernehmen. Vor Gericht spricht er vom Druck der Öffentlichkeit, die ihn teilweise schon vorverurteilt habe. Dabei, sagt er, zu Recht, sei er "nur einer der Beteiligten" gewesen. Selbst die Anklage tut sich schwer, ihm seine individuelle Schuld nachzuweisen.

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