Fall Kevin vor Gericht: Der Stellvertreter-Prozess
Vor dem Landgericht Bremen begann gestern das Verfahren gegen den Amtsvormund des zweieinhalbjährigen Kevin, der von seinem Ziehvater getötet wurde.
![](https://taz.de/picture/308872/14/Kevin.jpg)
Kevin. Es ist ein Name, der bis heute republikweit das Thema Kindesmisshandlung versinnbildlicht. Der stellvertretend für das Versagen sozialer Dienste steht. Der Bremen nachhaltig verändert hat. Kevin. Gut vier Jahre nachdem das zweieinhalbjährige Kind halb verwest in einem Kühlschrank gefunden wurde, begann gestern vor dem Bremer Landgericht der Prozess gegen den Amtsvormund des Jungen. Der war von seinem Ziehvater B. seinerzeit so schwer misshandelt worden, dass er zahlreiche Knochenbrüche davontrug und daran starb. B. ist dafür schon 2008 vom Landgericht Bremen wegen Körperverletzung mit Todesfolge und Misshandlung von Schutzbefohlenen zu zehn Jahren Haft verurteilt worden. Außerdem wurde er in eine Entziehungsanstalt eingewiesen.
Bert K., heute 67 und Rentner, muss sich nun wegen fahrlässiger Tötung verantworten. Weil er es sorgfaltswidrig versäumt habe, das Kind rechtzeitig dem suchtkranken B. wegzunehmen. So formuliert es die Anklage. Spätestens im Februar 2006 - mehrere Monate bevor Kevin vermutlich gestorben ist - hätte K. erkennen müssen, dass "dringende Gefahr" für Leib und Leben des Kindes bestanden habe. Als die Polizei ihn schließlich abholen wollte, war Kevin lange schon tot. Detailliert rekonstruiert die Anklageschrift sein kurzes Leben, listet von Geburt an all die "Alarmzeichen" auf, all die warnenden Stimmen von Ärzten und Richtern, Polizisten oder Sozialarbeitern, die dafür sprachen, das Kind "unverzüglich und dauerhaft" seinen Eltern wegzunehmen.
K. gab am ersten Verhandlungstag lediglich eine kurze Erklärung ab. Er trauere um den Tod Kevins, kein Tag sei seitdem vergangen, an dem er nicht an ihn gedacht habe. "Ich frage mich, was ich falsch gemacht habe", sagt er mit fester Stimme, und dass er sich am nächsten Prozesstag ausführlicher äußern will. Zugleich erhebt er selbst Anklage gegen den Staat: "Warum sind wir Amtsvormünder mit einem Übermaß an Verantwortung im Stich gelassen worden?" Für 230 Menschen war er seinerzeit zugleich verantwortlich, für Kevin erst wenige Monate vor dessen Tod. 230 Vormundschaften, das war damals ein für Bremen durchschnittlicher Wert. Heute sind es immer noch 90. Zum Vergleich: In Berlin, ebenfalls Stadtstaat, ebenfalls Haushaltsnotlageland, sind es derzeit rund 70. Anfang des Jahres hat Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) einen Entwurf für ein neues Vormundschaftsrecht vorgelegt. Demnach soll kein Amtsvormund mehr als 50 Menschen betreuen.
Neben Bert K. sollte Kevins Fallmanager J. auf der Anklagebank sitzen. Immer wieder spricht die Staatsanwältin in ihrer Anklage von "dem Beschuldigten" J. Doch der 58-Jährige ist so krank, dass er schon vor dem 2006 eingesetzten Parlamentarischen Untersuchungsausschuss der Bremischen Bürgerschaft nicht aussagen konnte. Das Verfahren gegen ihn am Bremer Landgericht wurde nun eingestellt - weil er laut mehreren ärztlichen Gutachten dauerhaft verhandlungsunfähig ist. K. ist jetzt derjenige, der stellvertretend für das System vor Gericht steht, das Versagen eines Jugendhilfesystems personifiziert, in dem viele über Kevins Schicksal Bescheid wussten, bis hin zum Bürgermeister. K. soll dem so schwer Fasslichen ein öffentliches Gesicht geben, persönliche Verantwortung übernehmen. Vor Gericht spricht er vom Druck der Öffentlichkeit, die ihn teilweise schon vorverurteilt habe. Dabei, sagt er, zu Recht, sei er "nur einer der Beteiligten" gewesen. Selbst die Anklage tut sich schwer, ihm seine individuelle Schuld nachzuweisen.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Tabubruch der CDU
Einst eine Partei mit Werten
„Edgy sein“ im Wahlkampf
Wenn eine Wahl als Tanz am Abgrund verkauft wird
Jens Bisky über historische Vergleiche
Wie Weimar ist die Gegenwart?
Denkwürdige Sicherheitskonferenz
Europa braucht jetzt Alternativen zu den USA
Jugendliche in Deutschland
Rechtssein zum Dazugehören
Erpressungs-Diplomatie
Wenn der Golf von Mexiko von der Landkarte verschwindet