60 Jahre Charta der Vertriebenen: Ein unmoralischer Verzicht
Die vor 60 Jahren erklärte Charta der Vertriebenen ist Dokument der Geschichtsklitterung. Der BdV braucht eine neue Erklärung, die wahrhaft auf Versöhnung setzt.
Dass die Charta der Heimatvertriebenen sechzig Jahre alt wird, ist für niemanden ein Grund zum Feiern oder zur respektvollen Anerkennung - auch nicht für die Bundesregierung. Eine genauere Analyse des Textes zeigt nämlich sofort, dass dort nichts anderes vollzogen wurde als eine massive Geschichtsklitterung, verbunden mit einem unmoralischen Verzicht.
Sogar wenn man von der völkischen Schöpfungstheologie absieht, die den Text durchweht, und den Umstand übergeht, dass viele der Erstunterzeichner in der NSDAP oder der SS waren bzw. Männer, die sich lange vor 1933 in Ostmitteleuropa als Volkstumskämpfer betätigten, zeigt sich in der Sache, wie falsch die Grundaussage der Charta ist: Weder entspricht es der historischen Wahrheit, dass das Schicksal der Vertriebenen an Leid vom Schicksal keiner anderen Gruppe in den Jahren 1939 bis 1945 übertroffen wurde, noch ist einsichtig, wie man auf Rache und Vergeltung verzichten kann.
Kein Recht auf Rache
Verzichten - feierlich dazu - kann man nämlich nur auf etwas, was einem legitimerweise zusteht; dass es so etwas wie ein moralisches Recht auf Rache und Revanche gibt, haben noch nicht einmal die kühnsten Philosophen behauptet; bestenfalls ließe sich sagen, dass entsprechende Gelüste verständlich und entschuldbar sind. Verzichten kann man auf sie nicht, man kann sie sich allenfalls untersagen. Dass die Unterzeichner der Charta, die alten Volkstumskämpfer, 1950 einfach dort weitermachen wollten, wo sie 1918 begonnen haben, beweist übrigens der Ort der Verkündung der Charta: Stuttgart. Viel zu wenig bekannt ist, dass Stuttgart 1936 von Adolf Hitler zur "Stadt der Auslandsdeutschen" erklärt worden war.
Darüber hinaus zeigt die Geschichte des Bundes der Vertriebenen (BdV) mitsamt seiner Vorsitzenden Erika Steinbach, dass alle Verdächtigungen, die gegen sie und ihren Verband im Schwange waren, zu Recht bestehen. Vor einigen Jahren war Steinbach durchaus ein Glücksfall für den in die Jahre gekommenen Verband - war es ihr doch gelungen, Agenda und Ideologie erfolgreich zu modernisieren.
Indem es ihr gelang, ihrer Sache eine universalistische Form zu geben, das heißt darauf hinzuweisen, dass nach unseren heutigen menschenrechtlichen Intuitionen jede Vertreibung oder gewaltsame Aussiedlung Züge eines Genozids annehmen und auch im Genozid enden kann, konnte sie auch Intellektuelle wie Ralph Giordano, Daniel Cohn-Bendit oder Peter Glotz für ihre Projekte gewinnen. Indem sie sich als eine der Ersten dafür einsetzte, den jungtürkischen Genozid an den Armeniern als solchen zu benennen und auch öffentlich daran zu erinnern, hat sie sich Verdienste erworben.
Steinbachs Ablehnung
Gleichwohl: Durch ihre Ablehnung des Beitritts von Ländern wie Tschechien zur EU ob deren menschenrechtswidriger Vertreibungsdelikte und ihre mit dünnen völkerrechtlichen Argumenten begründete Ablehnung der Oder-Neiße-Grenze hat sie sich in Ostmitteleuropa zur Persona non grata gemacht und dem verbal vorgetragenen Willen zur Versöhnung widersprochen.
Schließlich ist Erika Steinbach, was die Frage der Besetzung des Stiftungsrats zu einer Erinnerungsstätte an die Vertreibung betrifft, an Guido Westerwelle gescheitert. Das hat weder sie noch der BdV verwunden. Die jüngsten Äußerungen der jetzt in den Stiftungsrat "Flucht, Vertreibung und Versöhnung" entsandten BdV-Mitglieder Hartmut Saenger und Arnold Tölg beweisen, dass der lange gepflogene universalistische Grundton nicht mehr durchgehalten wird.
Indem Tölg und Saenger die alleinige Schuld des nationalsozialistischen Deutschland am Beginn des Zweiten Weltkriegs bestreiten und gegen die bedingungslose Entschädigung von Zwangsarbeitern sind, schalten diese BdV-Vertreter jetzt einen geschichtsrevisionistischen Rückwärtsgang ein. Nicht unbedingt bestürzend, wohl aber verräterisch ist, dass sich Erika Steinbach diese Meinungen ausdrücklich zu eigen macht.
Den deutschen Vertriebenen aus den Ostgebieten und aus Tschechien ist in den letzten Wochen und Monaten des Zweiten Weltkrieges mit schweigendem Einverständnis der westlichen Alliierten großes Unrecht widerfahren: Sie hatten einen erheblichen Blutzoll, zumal der Schwächsten, von Kindern, Frauen und Alten, zu entrichten; die Täter, tschechische und polnische Milizen sowie Truppen der Roten Armee, wurden für diese Verbrechen niemals zur Verantwortung gezogen.
Die falschen Funktionäre
Und sogar wenn, im Unterschied zu anderen vertriebenen und geflüchteten Gruppen, die Integration der Vertriebenen in den westdeutschen Staat am Ende eine Erfolgsgeschichte war, so ist doch zur Kenntnis zu nehmen, dass sie mindestens in den ersten Jahren keineswegs freudig empfangen und oft genug diskriminiert wurden. Gleichwohl haben sie insgesamt einen positiven Beitrag zum Aufbau der Bundesrepublik geleistet. Indes - leider haben sie sich bis heute von den falschen Funktionären vertreten lassen, von Funktionären, die, wie die Äußerungen der letzten Tage zeigen, nach wie vor nichts lernen wollen.
Dem BdV ist heute nicht zu gratulieren. Vielmehr ist von ihm zu fordern, die Charta endlich außer Kraft zu setzen und eine neue, wahrhaft auf Versöhnung und ein vereintes Europa setzende Grundsatzerklärung zu beschließen.
Links lesen, Rechts bekämpfen
Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Alleingang des Finanzministers
Lindner will Bürgergeld kürzen
Putins Brics-Gipfel in Kasan
Club der falschen Freunde
Deutsche Asylpolitik
Die Hölle der anderen
Kritik an Initiative Finanzielle Bildung
Ministeriumsattacke auf Attac
Linke in Berlin
Parteiaustritte nach Antisemitismus-Streit
Investitionsbonus für Unternehmen
Das habecksche Gießkannenprinzip