Christen in Bagdad: Verlorene Hoffnung

Die Maria-Heil-Kirche war Mittelpunkt der Christen aus Bagdad. Dann starben bei einem Anschlag 53 Menschen. Das Massaker hat unter den Gläubigen eine Fluchtwelle ausgelöst.

Gedenken der Opfer: Mitglieder der Maria-Heil-Gemeinde bei einer Andacht 40 Tage nach dem Massaker. Bild: dpa

BAGDAD taz | Die religiöse Toleranz, sonst im Irak eher selten geworden, scheint in Karrada, einem Stadtviertel in Bagdad, noch gegenwärtig. Ein Meer von Flaggen, mit denen die Schiiten in diesen Wochen an den Tod ihres Imam Hussein vor 1.340 Jahren gedenken, bestimmt das Straßenbild. Dazwischen haben aber etliche Geschäfte ihre Auslagen mit Weihnachtsdekoration geschmückt. Vor einem steht ein lebensgroßer Nikolaus in rotem Mantel und mit weißem Rauschebart und Saxofon, nebenan zieren Christbäume aus Plastik das Schaufenster, ein anderer Händler setzt auf Wandteppiche mit Jesus-und-Maria-Darstellungen.

Den Christen ist in diesem Jahr jedoch nicht nach Weihnachten zumute. Statt an das Fest zu Christi Geburt, denken viele an Flucht. Kurz vor der Adventszeit hatten Extremisten in Karrada eine Kirche überfallen und ein Massaker unter der versammelten Gemeinde verübt. Seitdem haben hunderte Familien Bagdad verlassen, viele weitere sitzen auf gepackten Koffern.

"O Herr, lass sie in Frieden ruhen", hallt es aus der Kirche Sayidat al-Nejat (Maria Heil). Mit erhobenen Händen steht Helin Selim Francis vor den Bildern der 46 Opfer des Überfalls und betet. Es klingt mehr wie ein Aufschrei der Verzweiflung denn wie ein Gebet. "O Herr, schütze den Irak. Gib uns einen geeinten und friedlichen Irak."

Francis glaubt nicht an den Frieden, zu oft wurden ihre Hoffnungen in den letzten Jahren enttäuscht. "Seit Jahren lebe ich auf der Flucht. Ich kann nicht mehr", sagt Francis. Vor sechs Jahren war sie aus dem Stadtteil Dora im Süden von Bagdad geflohen. Sunnitische Extremisten hatten in Dora und Karrada, den beiden Zentren der Christen in Bagdad, mehrere Autobomben gezündet, eine auch vor der Maria-Heil-Kirche. Zusammen mit ihren beiden Schwestern mietete sich Francis eine kleine Wohnung im Zentrum und hielt sich mit einem Job in einem Supermarkt über Wasser.

Doch dann überfielen schwer bewaffnete Räuber den Markt. Francis leidet seitdem an Panikattacken, trotzdem wollte sie den Irak nicht verlassen. "Ich bin in Bagdad geboren, großgeworden, mein ganzes Leben ist hier." Schließlich traute sie sich sogar zurück ins Elternhaus in Dora. Bis sie vor vier Monaten einen Drohbrief mit einer Kugel darin erhielt. Wieder flüchtete die Hotelfachfrau, die ihre Ausbildung in Frankreich und der Schweiz erhielt. Zusammen mit ihren beiden Schwestern lebt sie seitdem bei einer schiitischen Familie in Karrada. "Wenn wir jetzt nicht einmal in einem Gotteshaus sicher sind, gibt es überhaupt keine Sicherheit."

Einzeln oder in kleinen Gruppen kommen Besucher in der Kirche, um für die Toten zu beten und Kerzen anzuzünden. Auch Muslime sind darunter. Auf den Stühlen vor dem Tisch mit den Bildern der Opfer sitzen fünf Scheichs in Kamelhaarroben und schwarz-weiß gescheckten Kopftüchern. Terroristen haben in den letzten Jahren tausende von Anschlägen in der irakischen Hauptstadt verübt.

Bis heute vergeht kaum einen Tag, ohne dass irgendwo in der Stadt ein Sprengsatz explodiert. Tausende Muslime, besonders Schiiten, haben durch den Terror ihr Leben verloren. Aber kaum ein Anschlag hat über die Religionsgrenzen hinweg eine solches Entsetzen ausgelöst wie der Angriff auf die Maria-Heil-Kirche. Runah Shammeri ist in den letzten Wochen oft in die Kirche gekommen. "Obwohl ich keine Christin bin, spüre ich den Frieden, der von hier ausgeht", sagt die junge Muslimin. "Ich schäme mich dafür, was diese Verbrecher im Namen des Islam getan haben."

Mit Tränen in den Augen steht Leila Tarik mitten in der verwüsteten Kirche. Wo der Altar war, liegen nur noch Trümmer. Die Fenster sind herausgeblasen, das hohe, hölzerne Eingangstor geborsten. Die Wände am Eingang und hinter dem Altar sind mit Einschusslöchern und Blutspritzern übersät, an der Decke kleben braunrote Gewebeklumpen.

Leila Tarik weiß, was es bedeutet, einen geliebten Menschen durch einen Terroranschlag zu verlieren. Nicht weit von der Kirche entfernt wurde vor fünf Jahren ihr Ehemann durch einen Autobombenanschlag getötet. "Er war auf dem Weg zur Arbeit und kam nie wieder. Ich kann es bis heute nicht glauben", sagt die Lehrerin. "Dieses Blutvergießen muss endlich ein Ende haben." Aber wie die Christin Helin Selim Francis glaubt auch die Muslimin nicht an den Frieden. "Ich habe Angst", sagt Tarik, "große, große Angst."

Christen vernichten

Nach vierjähriger Bauzeit im Jahr 1963 fertig gestellt, ist die syrisch-katholische Maria-Heil-Kirche ein Wahrzeichen von Karrada. Der Kirchenraum, der wie ein Schiffsrumpf geformt ist, wird durch ein mehrere Meter hohes Eingangsportal mit einem riesigen Kreuz in der Mitte überragt, das Maria mit ihrem Schleier symbolisiert.

Rund hundert Gläubige hatten sich am 31. Oktober zum Sonntagsgottesdienst in der Kirche versammelt, als um Viertel nach fünf Uhr nachmittags ein Geländewagen vor dem Hintereingang parkte. Direkt gegenüber dem Wohnzimmerfenster von Madschid Mohammed. Der Ingenieur sah, wie die fünf Täter zwei große Plastikkisten über die Kirchenmauer hievten und über die Mauer sprangen. Panisch brachte er seine Frau und drei Töchter im hinteren Teil des Hauses in Sicherheit, dann explodierte der Geländewagen.

Jung seien die Täter gewesen, fast noch Kinder, sagt Mohammed. Wachen von der gegenüberliegenden Börse eröffneten das Feuer und verletzten einen der Täter, der sich daraufhin in die Luft sprengte. Seinen vier Kumpanen gelang es jedoch, in die Kirche einzudringen. Kaltblütig erschossen sie mehrere Gläubige und die beiden Priester, die versuchten, die Gemeinde in einem kleinen Seitenraum in Sicherheit zu bringen. Einer nahm auf dem Dach Stellung, dann wurde es still in dem Viertel. Bis rund drei Stunden später eine Antiterroreinheit die Kirche stürmte und sich die Selbstmordattentäter in die Luft sprengen. Hartnäckig halten sich Berichte, wonach mehrere Opfer durch Kugeln der Elitesoldaten starben. Außer den 46 Christen wurden auch zwei Polizisten getötet, etwa 60 Personen wurden teils schwer verletzt.

Handwerker haben notdürftig die Schäden im Wohnzimmer der Mohammeds renoviert. Über den schweren Möbeln liegt eine dicke Staubschicht. Zusammengekauert sitzt Mohammed auf einem Hocker und zündet sich eine Zigarette nach der anderen an. Wie viele Christen will auch der Muslim so schnell wie möglich weg aus dem Irak. "Ich kann die Gebete, die Schüsse und Explosion nicht vergessen", sagt der Ingenieur. "Ich halte das nicht mehr aus. Der Irak ist erledigt."

Zu der brutalen Tat hat sich der sogenannte Islamische Staat im Irak bekannt, ein Zusammenschluss von Terrorgruppen aus dem Umfeld von al-Qaida im Irak. Sie hat den Christen mit der Vernichtung gedroht. Wenige Tage später gingen vor christlichen Häusern in mehreren Vierteln von Bagdad Bomben hoch.

Kürzlich präsentierte die irakische Regierung zwölf Verdächtige als angebliche Drahtzieher der Tat. Mohammed und mit ihm viele Christen sehen darin freilich nur einen Versuch der Regierung, von ihrem Unvermögen abzulenken. "Jeder kann es gewesen sein", sagt Abu Bassem. Dabei dreht sich der alte Mann im Kreis und zeigt auf die Häuser um die Kirche. "Der hier oder der dort, jeder hier. Ob Terroristen, Politiker oder Polizisten, die Muslime haben alle nur ein Ziel - uns Christen zu vernichten. Das ist der Islam."

Viele Christen im Irak betrachten sich als Nachfahren der Ureinwohner des Landes. Noch bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts bildeten sie in vielen Gegenden des Nordirak die Mehrheit. Aber Kriege, Pogrome, Vertreibungen oder soziale Not haben die Christen in vielen Gegenden an den Rand gedrängt. Wie viele Christen heute noch im Irak leben, weiß niemand genau.

Manche Schätzungen gehen von weniger als 300.000 Personen aus. Und diese sind auf mehr als zehn Konfessionen verteilt. Nur in der Gegend von Mossul verfügen die Christen bis heute über ein mehr oder weniger geschlossenes Siedlungsgebiet. Mehrere Parteien und Vereinigungen fordern dort die Gründung einer autonomen Christenprovinz mit eigener Regierung und Sicherheitskräften.

Gerade in der Region, wo gemäß der Überlieferung der Prophet Jona gewirkt haben soll, ist die Bedrohung für die Christen jedoch besonders hoch. Nach dem Massaker in Bagdad riefen islamistische Extremisten in Mossul offen zur Vertreibung der Christen auf. Seit Jahren sorgen sie mit Entführungen, Bombenanschlägen und Morden für Angst und Schrecken. Von den ehemals mehreren zehntausend Christen sollen heute nur noch einige tausend in Mossul leben. Im Osten schielen die Kurden, in deren Teilstaat viele Christen Zuflucht gefunden haben, nach dem Gebiet.

In der Maria-Heil-Kirche haben sich etwa 150 Gläubige zu einer Andacht versammelt. Sie begehen den von Muslimen und Christen gleichermaßen gepflegten altorientalischen Brauch, am 40. Todestag der Verstorbenen zu gedenken. In seiner Ansprache bittet Pfarrer Ayser Behnam um Vergebung und Versöhnung. Auch Helin Selim Francis ist gekommen. Inbrünstig stimmt sie in ein Kirchenlied auf Aramäisch, der Sprache Jesu, ein. Für einen Moment huscht ein Lächeln über ihr Gesicht. Als der Pfarrer Augenblicke später an das Martyrium der Opfer erinnert, strömen ihr Tränen übers Gesicht.

"Die autonome Provinz ist eine schöne Idee", sagt sie nach der Andacht. Ihren Entschluss, zu fliehen, ändert das nicht. Möglichst noch vor Weihnachten will Bagdad verlassen. "Helfen wird sie uns nicht", sagt Helin Selim Francis. "Nur Gott kann uns retten."

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