Integrations-Erfolg: Die Letzten nur im Sport
An einem Gymnasium in Bad Segeberg lernen Kinder mit und ohne Handicaps zusammen. Die mit Förderbedarf, sagt ein Lehrer, profitieren von dieser Umgebung.
Eigentlich ist Wave-Board-Fahren geplant, in der Turnhalle. Aber viele aus der 7c haben ihr Sportzeug vergessen, und dann sind da ja auch noch zwei Journalistinnen aus Hamburg zu Besuch. "Wir machen eine Übungsstunde Mathe", entscheidet Lehrer Heiner Kleine, "alle zusammen." Ein paar Ohs und Ahs sind zu hören, dann sitzen alle an ihren Plätzen. "Wofür steht PS?", fragt Kleine. "Hendrik, was kommt raus, wenn man 3 und 4 zusammen zieht?"
Die SchülerInnen schreiben mit, um später zu rechnen. In der letzten Reihe rechts sitzt Schulbegleiterin Andrea Rosenbaum zwischen Hendrik und Christin*, denen sie assistiert. Auf der anderen Seite setzt sich der Sonderpädagoge Olaf Schneider neben Janik: Der weiß so einiges, hat aber mit dem Schreiben motorische Probleme. "Das ist mein Sekretär", sagt er und klopft dem Pädagogen auf die Schulter. Dann meldet er sich. "PS heißt Prozentsatz", sagt der Schüler mit "Förderbedarf im Bereich Lernen" - und hat damit eine gymnasiale Matheaufgabe gelöst.
Sieben von 23 SchülerInnen in der Klasse seien "I-Kinder", hatte Olaf Schneider im Vorspräch erklärt: Fünf haben Förderbedarf im Bereich Lernen, zwei im Bereich geistige Entwicklung. Sieben von 23, das ist viel - aber es sei gut, so Schneider, wenn die I-Kinder nicht zu vereinzelt seien.
Seit zwölf Jahren nimmt das Städtische Gymnasium Bad Segeberg lernbehinderte Kinder auf. Von der 5. bis zur 9. Klasse lernen die Kinder zusammen, unterrichtet von einem Team aus Klassenlehrer, Sonderpädagoge und Schulbegleiterin. Der Normalfall ist, dass Integration an Gemeinschafts- und Hauptschulen stattfindet. Als die örtliche Grundschule aber damals nach einem Partner suchte, winkte die Realschule ab. Der Leiter des Gymnasiums war offen für das bis dahin einmalige Experiment. "Es muss nicht immer so sein, dass Integration von den Schwächeren geleistet wird", sagt Lehrer Kleine. "Warum sollten die darin besser sein als die Gymnasiasten?"
Es geht weiter mit Mathe. Olaf Schneider holt Spielgeld für Christin und Hendrik. Sie sollen Beträge abzählen und hinlegen, während der Rest der Klasse Prozentrechnen übt: Was sind 75 Prozent von 360? Janik holt einen Zettel mit Formeln raus, die Schneider ihm aufgeschrieben hat. Er tippt die Zahlen in den Taschenrechner und hat rasch eine Lösung: "270", schreibt er in krakeligen Ziffern in sein Heft. "Meine Buchstaben sind so groß, die passen in keine Tabelle", sagt er, als er später weitere Aufgaben eintragen muss. Ole und Jan, zwei Mitschüler, bieten Hilfe an.
Auch Tobias ist I-Kind, hat im Team mit zwei Schülerinnen gerechnet und meldet sich, als er weiß, wie viel 50 Prozent von 450 sind. Tobias sei "in Mathe ziemlich stark", sagt Olaf Schneider, und er klingt ein bisschen stolz.
Alena und Jeanette, die bei der Einschulung als Förderkinder galten, fallen kaum auf. "Sie profitieren enorm davon, dass der Unterricht auf einem für sie hohen Niveau abläuft", erklärt Lehrer Heiner Kleine nachher. Am Gymnasium hätten die Kinder mehr Chancen als an einer Förderschule. "Vielleicht schaffen sie den Hauptschulabschluss."
Nach der 9. Klasse wechseln die IntegrationsschülerInnen auf die Berufsschule im Nachbargebäude. Auch hier unterrichtet Sonderschullehrer Schneider. Sein Ziel ist es, die SchülerInnen später außerhalb der Werkstätten unterzubringen: auf richtigen Arbeitsplätzen.
Nicht alle Stunden haben die Kinder der 7c zusammen. In Englisch und Latein gehen Schneider und Rosenbaum mit der Gruppe ins Nebenzimmer und machen eigenen Unterricht. Das Rechnen im Frontalunterricht sei eine Ausnahme gewesen, sagt Kleine. Überwiegend gebe es Gruppenarbeit, in der Referate ausgearbeitet würden. "Ich finde es gut, dass man einen Raum zum Unterhalten hat", sagt Hendrik später. "Es ist lustiger", sagt Lisa. "Wir können hier auch viel besser lernen. Spielerischer."
Die Integration erfolgt nach dem Prinzip der Freiwilligkeit. Nur LehrerInnen, die das wollen, unterrichten in diesen Klassen, auch die Eltern haben bei der Anmeldung nach der Grundschule die Möglichkeit, sich zu entscheiden. Nur eine von sechs 7. Klassen verfolgt das I-Konzept, und das auch nur alle vier Jahre. Häufiger hat es sich nicht ergeben. "Es gibt hier auf dem Land nicht so viele I-Klassen von Grundschulen, die wir aufnehmen können", erklärt Schneider.
Angst, dass sie weniger lernen, als am Gymnasium nötig ist, äußert keines der Kinder. Sie sei schon auf der Grundschule in einer I-Klasse gewesen, erzählt Lisa. Einige der damaligen MitschülerInnen seien nun am Gymnasium in einer Parallelklasse und "ärgern uns auf dem Schulhof". Das sei aber schon besser geworden. "Ein Mitschüler wird manchmal in der Mensa gehänselt", weiß auch Ole. Und Bei Sportwettkämpfen ist die Klasse 7c stets die letzte. "Aber das", sagt Ole, "ist uns egal."
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