JEAN PETERS POLITIK VON UNTEN
: Differenzier dich doch selbst!

Verkürzte Argumentation? Politisch nicht korrekt? Ein Plädoyer für grobe Gefühle im Kampf für Gerechtigkeit

Die Industrie ist scheiße, die wollen doch immer nur Kohle! Dazu dieses projektorientierte Netzwerkdenken und die absolute Flexibilität, die uns alle arbeitsmarktfähig machen soll. Fickt euch, fickt euch, fickt euch! Das war jetzt ein völlig verkürzter Aufschrei, gewürzt mit einem Schlag verfälschender Sexualisierung, das gebe ich zu. Aber wenn du nach Hause kommst und sagst, das war jetzt wieder ein beschissener Tag, dann beschwere ich mich doch auch nicht über deine Reduktionitis.

Der französische Theoretiker Foucault beschreibt das Phänomen als eine Übernahme der Autorität in die Selbstbeobachtung: Wir brauchen niemanden mehr, die oder der uns züchtigt – wir machen das selbst. Und wenn wir es falsch machen, gehen wir zum Verhaltenstherapeuten, um wieder besser zu funktionieren. Entschuldigung: „VerhaltenstherapeutIN“, ich habe vergessen zu gendern.

Emanzipation dauert ein Leben lang, und da greifen Mechanismen, die wir in der Pubertät gelernt haben. Da hatten wir drei bis sieben Jahre, um zu prüfen, was wir anders machen wollen als unsere Papas und Mamas. Hat man bei denen erst mal gelernt, sich erfolgreich aufzulehnen, sind nach der Pubertät die Sexisten, Kapitalisten, Rassisten und Neohippizisten dieser Welt dran … Das ist eine Menge Arbeit. Das schafft man das in einer kurzen Pubertät nicht. Das dauert ein ganzes Leben.

Als mein bester Freund mich ganz gerührt anrief und sagte, er wolle nach 15 Jahren Beziehung mal heiraten, schrie ich: Was!? Vor der Kirche? Vor dem Staat? Was haben die denn bei euch zu suchen? Wollt ihr einen Dreier mit dem Schweinesystem?! Das war zwar vielleicht richtig, aber unsensibel. Immer gleich loszupöbeln ist natürlich Quatsch. Differenzieren ist manchmal auch wichtig und gut, denn in Zeiten, in denen autonome Nationalisten Ton Steine Scherben hören, hängt politisches Überleben vom Differenzieren ab.

Und doch: Schreien und pöbeln ist gesund. Mit Gefühl. Es wirkt befreiend und es entspannt. Im Schrei stecken leckere Zutaten für emanzipative Veränderung: Wut, die rausmuss und anstößt. Hoffnung, sonst würde man nicht schreien. Und der Wunsch nach Alternativen, sonst würde man eine Lösung vorschlagen. Und, scheiße, ich gebe es zu, das war jetzt wieder differenziert.

Neo-Emanzen leben im ständigen Kampf. Wenn wir einmal für die alltägliche Kackscheiße sensibilisiert sind, können wir nicht mehr wegschauen. Ob wir handeln, hängt von unserer Kraft ab. Doch wo Kacke ist, muss man eben auch mal reinhauen, da hilft kein Einseifen.

Der Autor ist Clown und politischer Aktivist Foto: S. Noire