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Archiv-Artikel

Melanie, die Starke

LEBENSWEGE Wir fuhren gemeinsam Fahrrad auf der Dorfstraße und färbten uns zum ersten Mal die Haare. Aber mit achtzehn wurde Melanie vorzeitig erwachsen: Sie war schwanger und bekam zwei Kinder. Ein Wiedersehen nach neun Jahren

VON WIEBKE KLEEFELDER

Bei der Beerdigung von Lady Di haben Melanie und ich beschlossen, dass sie Prinz William bekommt und ich Harry, weil sie die Ältere ist. Eigentlich hat Melanie das bestimmt, ich wollte natürlich auch William, Harry war ja noch nicht einmal richtig in der Pubertät. Melanie kriegt immer, was sie will, dachte ich damals, aber ich war nicht beleidigt. Ich bewunderte sie dafür. Wir saßen vor dem Fernseher im Wohnzimmer von Melanies Eltern, auf dem Sofa, das immer leicht nach kaltem Rauch roch. Ich erinnere mich nicht, warum ihr Vater nicht da war, er saß sonst eigentlich immer dort. Melanies Vater war arbeitslos und Alkoholiker.

Melanie und ich waren Freundinnen, wir wohnten genau an den zwei entgegengesetzten Enden der Dorfstraße. Wenn wir mit dem Fahrrad zwischen unseren Häusern hin- und herfuhren, saß sie auf dem Sattel und ich zwischen ihren Beinen auf der Stange. Zu dieser Zeit hatte unser Dorf in Mecklenburg noch 200 Einwohner.

Lady Di ist seit zwölf Jahren tot und Melanie und ich haben uns seit neun Jahren nicht mehr gesehen. Ich weiß, wo sie wohnt und dass sie Zwillinge hat, die nächstes Jahr in die Schule kommen. Sie war achtzehn, als sie erfuhr, dass sie schwanger ist. Mehr weiß ich nicht. Als ich per SMS frage, ob sie Lust hat, mich wiederzusehen, antwortet sie: „Klar hab ich Lust. Wann bist du da?“ „Heute Abend um halb sechs“, antworte ich.

In ihre Stadt fährt kein Zug

Wenn ich an Melanie gedacht habe in den letzten Jahren, dann hörte ich oft die Worte meines älteren Cousins, der sie vielleicht gern geheiratet hätte. Er sagte einmal: „Melanie hatte immer so viel Feuer. Ich habe gedacht, sie schafft es.“ Mit „sie schafft es“ meinte er, dass sie jemand sein könnte, der widerlegt, dass die Verhältnisse sich immer selbst reproduzieren. Wenn in meinem Dorf ein Kind geboren wird, kann ich seinen Schulabschluss vorhersagen; bisher liegt meine Trefferquote bei hundert Prozent. Architekt am Park: Abitur, Alkoholiker im Plattenbau: Sonderschule. Leider ist es so verdammt einfach. Mich macht das wütend. Als Kind nahm ich die Unterschiede, die Ungleichheit der Chancen, nicht wahr. Melanie und ich lernten uns in der vierten Klasse kennen, sie war gerade sitzen geblieben und musste das letzte Grundschuljahr wiederholen. Nach der vierten Klasse kam ich aufs Gymnasium und Melanie auf die Hauptschule. Das war eben so und uns irgendwie auch egal. Damals.

Der Weg zu Melanie ist eine Zeitreise. In ihre Kleinstadt fährt kein Zug, ich steige in Karow aus und muss an der Bushaltestelle frieren wie früher. Alle Bahnhofsgebäude sind zugenagelt, es gibt nur noch den Bahnsteig. Das einzig Neue sind zwei Poller, die verhindern, dass wartende Autos zu nah an die Gleise fahren. Die Geschichtstafel auf dem Rondell liest sich wie ein Abgesang auf einen Landstrich: „Bis Ende der Achtziger fertigten 90 Beschäftigte 20 Personen- und 50 Güterzüge täglich ab. Nach 1990 wurde der Gütertransport auf die Straße verlegt, auch der Personenverkehr ging stark zurück. Heute verkehrt nur noch alle zwei Stunden ein Triebwagen der Ostdeutschen Eisenbahn.“ Aber die Bushaltestellen in Karow sind immer noch die gleichen, die sie auch in unserem Dorf aufstellten, nachdem die Jungs jahrelang jeden Kunststoffunterstand innerhalb von wenigen Wochen zerstört hatten. Irgendwann gab es dann Häuschen wie hier – aus Backsteinen und Holzbalken. Auch was man dort an die Wände schreibt, änderte sich offenbar die letzten zehn Jahre nicht: „F.G.+T.D.=Big Love“.

Melanie und ich umarmen uns an der Tür. „Du hast ja doch irgendwann noch angefangen zu wachsen“, sagt sie. Ihr Gesicht ist solariumsgebräunt, die Lidränder schwarz nachgezogen. Die dunkelblonden Haare hat sie schwarz gefärbt.

Wir hatten uns damals das erste Mal gemeinsam eine Haarfärbung gekauft, für einen Wettbewerb, bei dem es darum ging, Kälber möglichst elegant durch einen Ring zu führen. Kalb und Kind sollten perfekt harmonieren, deshalb beschlossen wir unsere Haarfarbe der des Kalbes anzupassen. Mein Kastanienrot klappte, ihr Schwarz wurde lila. Wir wussten damals nicht, was „Aubergine“ bedeutet. Weder bei mir zu Hause noch bei Melanie gab es jemals Auberginen. Melanie beließ es dann bei Lila.

Melanie war immer die Mutige, die, die zupacken konnte, sich traute, das Pferd zu reiten, das niemand im Griff hatte.

Ihre Zweiraumwohnung ist im ersten Stock eines kleinen Stadthauses. An der Kinderzimmertür hängen in Holzbuchstaben die Worte „oah“ und „eo“. „Was ist den oah und eo?“, frage ich. Melanie lacht. „Die ersten Buchstaben sind abgefallen, Noah und Leo, so heißen die beiden“. Drinnen liegen zwei Jungen vor einem kleinen Fernseher und schauen einen Cartoon.

Als sie mit achtzehn schwanger wurde, war sich Melanie nicht sicher, ob sie das Kind bekommen sollte. Die Eltern ihres Freundes sagten zu ihr: „Du versaust ihm sein Leben.“ Und was ist mit meinem, fragte sie damals. Sie hatte den Hauptschulabschluss gemacht, eine Ausbildung in einem Hotel angefangen. Ihre Haare trug sie damals blondiert, selbst der Chef nannte sie Blondy. Irgendwann wollte sie nicht mehr die sein, mit der alle machen können, was sie wollen, und färbte sich die Haare pechschwarz. Vielleicht hätte sie auch so gekündigt, sagt Melanie heute. Sie brach die Ausbildung wegen der Schwangerschaft ab.

Als sie ihrer Frauenärztin sagte, sie wolle das Kind, machte die ein Ultraschallbild. „Oh, es werden zwei“, sagte sie dann. Melanie schluckte. „Sie können es sich noch einmal überlegen, aber in zwei Wochen ist wirklich höchste Eisenbahn.“ – „Ach, wenn ich mich jetzt für das eine entschieden hätte, kriegen wir das andere auch irgendwie groß.“

Melanie hat in den letzten knapp sechs Jahren zwei Kinder großgezogen, fast ohne Hilfe. Ihr Freund trennte sich von ihr, als sie sich gegen eine Abtreibung entschied. In unregelmäßigen Abständen holt er die Jungen für eine Nacht zu sich. Melanie und er hören nur über das Jugendamt voneinander und einmal waren sie gemeinsam in der Sat.1-Talkshow „Britt“. Die Eltern ihres Exfreundes hatten gesehen, dass man in der Sendung umsonst einen Vaterschaftstest machen kann und das Ergebnis dann live vor der Kamera erfährt. Vorher musste er der Moderatorin und Melanie erklären, warum er Zweifel an seiner Vaterschaft hat.

Mit ihrer Mutter hat Melanie seit über fünf Jahren keinen Kontakt, mit ihren beiden Schwestern seit kurzem auch nicht mehr. Ihren Vater sieht sie selten. Melanies Mutter war damals mit den Kindern aus unserem Dorf weggezogen, weil sie sich endlich von ihrem Mann getrennt hatte. Er wurde manchmal aggressiv, wenn er betrunken war, und er war eigentlich jeden Abend betrunken. Als Kind hatte ich Angst vor ihm. In einer Nacht, in der wir in Melanies Bett lagen, erzählte sie mir davon, wie er ihre kleine Schwester Sandra einmal in den Kühlschrank gesteckt hatte und ihre Mutter verzweifelt versuchte, ihn von der Tür wegzureißen. Sandra, die damals ein Kleinkind war, ist heute siebzehn. Sie hat die Schule nach der siebenten Klasse abgebrochen, kam in ein Heim. Gerade ist sie schwanger geworden.

Melanies Mutter hatte bald einen neuen Freund, wieder einen Säufer, sagt Melanie. Melanie stritt sich oft mit ihm. Einmal bedrohte er sie mit einem Messer und warf sie im Flur auf den Boden. Melanie rief die Polizei, ließ ihre Verletzungen beim Arzt dokumentieren und zeigte ihn an. Vor Gericht machte ihre Mutter, die danebengestanden hatte, eine Falschaussage gegen ihre Tochter. „Weil sie Angst vor diesem Typen hat“, sagt Melanie. Er wurde trotzdem verurteilt, die beiden brachen den Kontakt ab. Noah und Leo kennen ihre Großmutter nicht.

Geburt unter Vollnarkose

Melanie wurde allein Mutter. Als sie nach der Geburt aufwachte, standen drei Polaroids neben dem Bett und die sechs Wochen zu früh geborenen Jungen waren in einer anderen Klinik. Melanie wusste nicht, dass sie für den Kaiserschnitt eine Vollnarkose bekommen würde. Dass sie nun zwei Söhne hatte, spürte sie nicht. Nach drei Tagen sah sie ihre Kinder zum ersten Mal, deren Köpfe waren kleiner als ihre Handfläche. Sie hatte anfangs Angst, sie kaputtzumachen.

Die Jungen gehen jetzt schon länger in den Kindergarten. „Wenn wir nächstes Jahr zur Schule kommen, brauchen wir aber auch einen eigenen Schlüssel“, haben sie zu Melanie gesagt. Seit kurzem jobbt sie wieder in einem Hotel, nur tagsüber, keine Wochenend- und Feiertagsschichten. Es ist ein Familienbetrieb, der Chef hat sie gefragt, ob sie auch bei ihm zu Hause putzen möchte. Ab März 2010 soll sie eine Festanstellung bekommen.

Wenn die Zwillinge bei ihrem Vater sind, geht Melanie manchmal in die Disko, tanzen. Sie ist 25. Wenn jemand ihre Nummer haben will, muss er Geduld haben. „Wir brauchen keine Männer“, sagt sie. Ihre letzten Beziehungen waren Reinfälle. Einer hatte nebenbei eine Freundin und log sie monatelang an. Es sei doch so schön gewesen, sagte er. Sie schmiss ihn raus. Leo hat letztens gefragt: „Mama, wann hast du mal wieder einen Freund?“ „Warum?“ „Wir wollen einen Papa hier zu Hause.“ „Ihr habt doch einen Papa.“ „Aber wir wollen auch einen hier zu Hause.“ Sie hat nichts geantwortet und Leo neben seinen neuesten blauen Fleck geküsst. Melanie sagt, sie würde schon nochmal ein Kind bekommen, aber nur wenn der Vater bereit sei, mit Verantwortung zu übernehmen.

Als Melanie mich zur Haustür bringt, will Leo mitkommen. Er hat nur Socken an, also hebt sie den Fünfjährigen, der ihr bis zum Bauch reicht, hoch und trägt ihn auf der Hüfte die Treppe herunter. Er ist schwer, aber Melanie ist immer noch stark.

WIEBKE KLEEFELDER, 24, die eigentlich anders heißt, ist Volontärin bei der taz