Tayyip Erdogan bei der Bundeskanzlerin: Jahrestag mit Seitenhieben
Merkel und Erdogan würdigen die "Gastarbeiter" der ersten Stunde. Zuvor hatte der türkische Premier die deutsche Politik kritisiert und Europa Mitschuld an PKK-Gewalt gegeben.
BERLIN taz | Auf Mesut Özil als Vorbild konnten sich beide einigen. Beide, Angela Merkel wie Tayyip Erdogan, dankten außerdem den türkischen "Gastarbeitern" der ersten Stunde für ihre Leistung. Und beide machten sich stark für die Integration der Einwanderer aus der Türkei, für deren Erwerb der deutschen Sprache und der deutschen Staatsbürgerschaft.
Die riesigen Kronleuchter im großen, holzgetäfelten Saal des Auswärtigen Amts verströmen fast orientalische Pracht. Der Ort war von der Bundesregierung gut gewählt für den offiziellen Festakt zum 50. Jahrestag des deutsch-türkischen Anwerbeabkommens in Berlin.
"Wir gehören zusammen", sagte der türkische Premier dort in seiner Rede, und er formulierte diesen Satz auf Deutsch. Angela Merkel nahm anschließend diesen Ball dankbar auf.
Doch da endeten schon die Gemeinsamkeiten. Während Erdogan um mehr deutsche Unterstützung beim EU-Beitritt seines Landes warb und eine "große europäische Vision" forderte, sagte Merkel dazu gar nichts.
Dabei hatte Erdogan spitz vor nationaler "Kleinkariertheit" gewarnt, die verhindere, dass die EU mehr als ein regionaler Player sei. Erdogan verlangte außerdem, sein Land im "Kampf gegen den Terror" nicht alleinzulassen. Merkel antwortete darauf: "Im Kampf gegen den Terrorismus stehen wir an Ihrer Seite."
Bindeglied oder Sozialfälle
Die beiden setzten in ihren Reden unterschiedlichen Akzente. Während Erdogan das enorme Wirtschaftsvolumen und den Handel zwischen beiden Ländern hervorhob, rechnete Merkel die deutschen Ausgaben für Integrationskurse vor.
Während Erdogan die Deutschtürken als attraktives Bindeglied zwischen beiden Ländern pries, erschienen sie bei Merkel streckenweise wie Sozialfälle. Man dürfe "die Probleme nicht verschweigen", sagte sie, sagte aber auch: "Deutschland ist reicher geworden, weil es vielfältiger geworden ist."
Im Vorfeld der Festveranstaltung waren die Differenzen zwischen beiden Regierungen offen zutage getreten. In einem Interview der Bild-Zeitung hatte Erdogan am Mittwoch die deutsche Integrationspolitik - und vor allem die Einschränkungen beim Ehegattennachzug aus der Türkei - scharf kritisiert.
"Wer Deutschkenntnisse zur wichtigsten Voraussetzung erklärt, verletzt die Menschenrechte", sagte er. Es blieb Merkels Staatssekretärin Maria Böhmer überlassen, dem zu widersprechen und die Sprachtests zu verteidigen: Sie seien sogar eine große Hilfe, weil die nachziehenden Ehepartner durch die Kurse schneller in Deutschland heimisch würden.
Doppelte Staatsbürgerschaft
Heikel wurde es für Merkel auch beim Thema doppelte Staatsbürgerschaft. In einer Talkrunde mit deutschtürkischen Publizisten, Filmemacherinnen und Wissenschaftlern, die nach den offiziellen Reden angesetzt war, fragte Erdogan, warum sich Deutschland so schwertue, zwei Pässe nicht nur bei EU-Ausländern, sondern auch bei Türken zu akzeptieren - in Frankreich sei dies doch Normalität.
Großzügig bot er allen Deutschen, die sie wollten, die türkische Staatsbürgerschaft an. Als Zeit-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo, der die Runde moderierte, bei Merkel nachhakte, wich diese aus. Mit der Integration habe der Doppelpass "relativ wenig zu tun", meinte sie. Und: Wer keinen deutsche Pass besitze, sei ihr "gleich lieb".
Erstaunlich genug ist, dass beide Regierungschefs überhaupt die Zeit fanden, sich zu dem seit Langem angesetzten Termin zu treffen. Beide haben schließlich derzeit eine Menge anderer Probleme am Hals: Merkel muss den Euro retten und reist früher als geplant zum G-20-Gipfel nach Cannes. Und Erdogan hat das Erdbeben in der Osttürkei und die Eskalation im Krieg mit der PKK-Guerilla zu bewältigen.
Vor diesem Hintergrund muss man seinen Vorwurf an die Bundesregierung sehen, sie lasse sein Land im Kampf gegen den Terror im Stich. Am Abend zuvor hatte Erdogan den Europäern eine Mitschuld an der Gewalt der Kurdenrebellen in seinem Land zugewiesen.
Wer es hinnehme, dass die verbotene Arbeiterpartei Kurdistans in Europa Medien betreiben und Geld sammeln könne, der mache sich mitschuldig am Tod von Frauen und Kindern durch Terroranschläge, hatte Erdogan am Dienstagabend bei einer Rede vor geladenen Gästen in Berlin gesagt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Stellenabbau bei Thyssenkrupp
Kommen jetzt die stahlharten Zeiten?
Greenpeace-Mitarbeiter über Aufrüstung
„Das 2-Prozent-Ziel ist willkürlich gesetzt“
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Iran als Bedrohung Israels
„Iran könnte ein Arsenal an Atomwaffen bauen“