Interview Ursula von der Leyen: "Werte erhält man nicht durch Starre"

Ursula von der Leyen sieht beim Mindestlohn keinen Kurswechsel. Und die Schwenks bei Atomkraft und Wehrpflicht seien kein Problem. "Die CDU geht mit der Zeit, um ihre Werte zu erhalten."

Besetzt moderne Themen für die CDU: Arbeitsministerin Ursula von der Leyen. Bild: dpa

taz: Frau von der Leyen, wie schön, dass jetzt auch die CDU für Mindestlöhne ist.

Ursula von der Leyen: Wieso? Alle bestehenden Branchenmindestlöhne sind unter CDU-Kanzlerschaft eingeführt worden.

Sie schlagen jetzt vor, über eine Kommission mehr zu etablieren. Wie soll das funktionieren?

Ein unabhängiges Gremium, in dem Vertreter von Gewerkschaften und Arbeitgebern sitzen, aber auch Wissenschaftler, würde eine Lohnuntergrenze vereinbaren. Die Wissenschaftler stellen sicher, dass es keinen Streit über grundlegende Fakten und statistische Daten gibt. Diese Kommission könnte auch festlegen und begründen, ob sie bei der Lohnuntergrenze Unterschiede für nötig hält.

Und die Politik würde diesen Lohn per Gesetz übertragen?

So wie wir das heute schon bei den Branchenmindestlöhnen machen. Den Rahmen für den Geltungsbereich schafft der Gesetzgeber, die Höhe des Lohns muss die Kommission eigenständig und unabhängig vom Staat finden. Dafür brauchen wir die Expertise der Tarifparteien.

1958 in Brüssel geboren, studierte Volkswirtschaft und Medizin, war von 2003 bis 2005 Ministerin für Soziales, Frauen, Familie und Gesundheit in Niedersachsen, von 2005 bis 2009 Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Am 30. November 2009 wurde sie zur Bundesministerin für Arbeit und Soziales ernannt. Von der Leyen ist seit 2004 Mitglied des CDU-Präsidiums.

Wie hoch muss ein fairer Mindestlohn sein?

Das muss die Kommission festlegen, deswegen werde ich auch keine Vorgaben zur Höhe machen. Der Politik fehlt für die Lohnfindung auch die Expertise, ich vertraue da auf die lange Erfahrung der Tarifparteien.

Er müsste doch über dem Existenzminimum liegen?

Ich bin sicher, dass eine Kommission sich ernsthaft mit der Lebensrealität der Bürgerinnen und Bürger auseinandersetzen wird. Aber noch einmal: Sie werden von mir keine Aussage zu einer Höhe bekommen. Wichtig ist jetzt, dass die CDU grundsätzlich Ja zu einer allgemeinen, verbindlichen Lohnuntergrenze sagt. Und zweitens darüber diskutiert, wie diese am besten ermittelt werden kann.

CDU-Bundesparteitag: Es wird ein historischer Parteitag für die CDU: Mit einer Lohnuntergrenze, faktisch ein Mindestlohn, dem Abschied von der Hauptschule und einer neuen Linie bei der Europapolitik diskutiert die Partei gleich drei hoch umstrittene Themen, die für die Modernisierung stehen, die Kanzlerin Angela Merkel ihrer Partei zumutet.

Die Ironie dabei ist der Ort des Geschehens. In Leipzig verordnete sich die CDU 2003 eine extrem neoliberale Ausrichtung. Damals ging es um eine Kopfpauschale im Gesundheitswesen und ein dreistufiges Steuermodell. Jetzt, acht Jahre später, schwenkt die CDU nach links und könnte Dinge vereinbaren, gegen die sie sich jahrzehntelang gesträubt hat:

Mindestlohn: Die interne Debatte über Mindestlöhne hat der CDU-Arbeitnehmerflügel angestoßen. Er fordert in einem Antrag eine allgemeine Lohnuntergrenze, die sich an den Mindestlohn in der Zeitarbeit, rund sieben Euro die Stunde, anlehnt. Merkel hat sich hinter eine Lohnuntergrenze gestellt, aber gegen den einheitlichen Zeitarbeitslohn. Stattdessen will sie regional- und branchenspezifische Mindestlöhne.

Europa: Das wird ein wichtiges Thema sein, schließlich fühlen sich viele CDUler von den Kriseninterventionen der Regierung überfordert. Der Leitantrag des Parteivorstands betont den Wert Europas, hat aber eine strafende Anmutung. Schuldenländer sollen mit einem EU-Sparkommissar zur Räson gebracht werden, der Europäische Gerichtshof soll die Einhaltung des Stabilitätspaktes durchsetzen.

Bildung: Die CDU will neben dem Gymnasium nur eine weitere Schulform etablieren: die Oberschule. Die Partei verabschiedet sich also langsam von der - lange hochgehaltenen - Hauptschule.

Da gehen die Meinungen in der CDU weit auseinander. Der mächtige Landesverband NRW würde gerne den Zeitarbeitslohn auf andere Branchen übertragen.

Ich unterstütze den Vorstoß von Karl-Josef Laumann, sehe aber bei der Kopplung an die Zeitarbeit noch Diskussionsbedarf. Die Lohnuntergrenze muss ja in allen Branchen akzeptiert werden, und die Zeitarbeit steht für gerade drei Prozent der Beschäftigungsverhältnisse. Eine Kommission mit Mitgliedern, auf die man sich branchenübergreifend geeinigt hat, würde diese Akzeptanz sicherstellen.

Die Kanzlerin hingegen plädiert für eine branchenspezifische Lösung. Also fünfhundert Mindestlöhne im Land?

Ach was. In zehn Branchen existieren ja schon Mindestlöhne. Sie funktionieren gut, und sie müssen nicht angetastet werden. Wir dürfen die Tariflandschaft nicht zersplittern in unzählige Mindestlöhne, das führt in der Praxis zu schwierigen Abgrenzungsfragen und schwächt so den gewollten Schutz der Arbeitnehmer. Auf der anderen Seite sollten wir nicht von vornherein die Tür zuschlagen für wenige begründete Unterschiede. Vor allem wollen wir weiße Flecken in der Tariflandschaft bekämpfen …

wo keine Tarifverträge existieren, weil die Gewerkschaften zu schwach sind.

Dort stößt die Tarifautonomie an ihre Grenzen, deshalb ist dort die Politik besonders in der Pflicht, einen neuen Rahmen zu setzen.

Viele Menschen arbeiten für vier, fünf Euro die Stunde, obwohl es einen Tarifvertrag gibt. Ihr Modell ignoriert die Friseurin in Ostdeutschland.

Die Politik muss Übergangsregelungen schaffen. Bei neuen Tarifabschlüssen könnte es sich ohnehin keine Gewerkschaft leisten, unter der Lohnuntergrenze abzuschließen. Dann erledigt sich das Problem von selbst.

Was passiert, wenn sich die Tarifpartner in Ihrer Kommission nicht einigen?

Internationale Erfahrungen zeigen, dass man in ein Kommissionsmodell Mechanismen einbauen kann und muss, um Pattsituationen zu verhindern. Das wäre auch in Deutschland möglich.

Der Mindestlohn ist nur der jüngste Schwenk der Kanzlerin. Stimmt der Parteitag auch über eine moderne CDU ab?

Ich wünsche mir, dass dieser Parteitag eins deutlich macht: Die CDU geht mit der Zeit, um ihre Werte zu erhalten. Die CDU ist seit Ludwig Erhard die Partei, die für die Balance von Wirtschaft und sozialer Sicherheit steht. Klar ist: Werte erhält man nicht durch Starrheit. Jede Generation, ob in der Familie, im Betrieb oder der Politik, erneuert Dinge. Aber oft, um die Tradition zu erhalten, nicht, um sie infrage zu stellen.

Wehrpflicht weg, Hauptschule auch, Atomausstieg - überfordert Merkel die CDU?

Gesellschaftliche Veränderungen finden statt, ob sie uns passen oder nicht. Und die Politik muss darauf reagieren. Als wir in der Familienpolitik das Elterngeld und den Rechtsanspruch auf einen Krippenplatz eingeführt haben, gab es auch Empörung in und außerhalb der CDU. Rückblickend ist klar, dass diese Reform überfällig war. Weil die Lebenswirklichkeit der Menschen längst weiter ist.

Aber die CDU hat durch die gehäuften Kehrtwenden ein Glaubwürdigkeitsproblem.

Nein, das glaube ich nicht. Die CDU demonstriert doch gerade, dass sie um Antworten auf Fragen der Zukunft ringt. Und welche findet, statt in der Vergangenheit stehen zu bleiben. Das ist die Stärke einer Volkspartei, dass sie die Kraft zur Erneuerung hat, auch wenn es schmerzhafte Debatten kostet.

Eine persönliche Frage: Merkel wird nicht ewig Parteichefin bleiben. Verbessert eigentlich jemand, der sich in der CDU progressiv positioniert, seine Chancen auf eine Nachfolge?

Positionieren muss man sich mit seinen Überzeugungen. Wo man scheitert oder sich durchsetzt, zeigt sich erst im Rückblick. Schon mein Vater eckte in der Partei permanent an, er handelte aus der Überzeugung heraus, etwas verändern zu wollen. Ich habe andere Themen als er, weil meine Zeit eine andere ist, aber das Prinzip finde ich gut: Ich fühle mich in der CDU zu Hause, bin aber nicht in der Politik, um die Blaupause einfach fortzuschreiben, sondern will mit ihr etwas verändern.

Das war keine Antwort.

Ob sich in der CDU Karrierechancen durch liberale Standpunkte verbessern? Das weiß ich nicht, ist mir auch egal. Man muss für seine Themen brennen, sonst nimmt man keine Menschen mit. Für eine Volkspartei ist es gut, wenn sie viele unterschiedliche Typen hat, die auf ihre Art überzeugen.

Sie besetzen moderne Themen, Sie reden als Einzige in der CDU von "Vereinigten Staaten von Europa". Bringt sich da eine Ersatzkanzlerin in Stellung?

Die Erklärung ist sehr viel einfacher - nämlich biografisch begründet. Ich bin in Brüssel geboren und aufgewachsen. Die Begeisterung für Europa, dafür, mit anderen Nationen etwas gemeinsam zu erschaffen, habe ich von Kindheit an aufgesogen. Die Krise macht es nötig, nicht nur über EFSF, ESM oder EWF zu sprechen, sondern über die dahinter stehenden großen Themen: die riesigen Vorteile einer gemeinsamen Binnenwirtschaft, das friedensstiftende Element des Staatenbundes, die Freizügigkeit bei Arbeit und Reisen.

Der Europaleitantrag des CDU-Vorstands enthält viele Ideen, um Schuldenländer zum Sparen zu zwingen, und redet von einem EU-Sparkommissar …

… den ich auch lieber Währungskommissar genannt hätte.

Wie kann er Sparen erzwingen?

In der EU gibt es zum Beispiel einen starken Wettbewerbskommissar. Er genehmigt etwa Unternehmensfusionen - oder genehmigt sie nicht, wenn er die Gefahr eines Monopols sieht. Ein Währungskommissar würde mit ähnlichen Durchgriffsrechten über die Haushaltsdisziplin wachen. Wir kämpfen bekanntlich dafür, dass jedes Euroland eine Schuldenbremse in seiner Verfassung installiert. Solange sich ein Land an die Regeln und eine eigene Schuldengrenze hält, ist alles in Ordnung. Aber wenn es sie überschreitet, soll der Währungskommissar die Genehmigung des Staatshaushalts verweigern können - sodass er neu aufgestellt werden muss. Er wacht nur über die Höhe, über die Haushaltsposten entscheiden die gefährdeten Staaten weiterhin völlig autonom.

Das wäre ein tiefer Eingriff in die nationale Souveränität.

Griechenland lehrt, dass bereits kleine Volkswirtschaften die große Gemeinschaft in tiefe Probleme bringen können. Es gibt kein gemeinsames Europa und den Euro mit all seinen Vorteilen ohne die Kehrseite nachweislich solider Haushaltspolitik. Die Zeiten, in denen Verschuldung eine nationale Angelegenheit war, sind vorbei.

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