: „Aschenputtel darf alles sein“
LEKTÜRE Andreas Kraß erklärt, wie man nicht nur in Märchen neue Lesarten und Blickwinkel erschließt
■ geboren 1963 in Schermbeck, lehrt derzeit an der Humboldt-Uni Berlin deutsche Literatur des Mittelalters und Geschlechterforschung. Auf dem taz.lab lehrt er, nicht heteronormativ zu denken.
taz.lab: Herr Kraß, was ist Heteronormativität?
Andreas Kraß: Ein Denken und Handeln, das den scheinbaren Gegensatz von Männlichkeit und Weiblichkeit andauernd reproduziert. Ein Beispiel ist die Debatte um das Adoptionsrecht für gleichgeschlechtliche Paare. Bei manchen Kritikern hat man den Eindruck, dass ihnen die Geschlechterdifferenz wichtiger ist als das Kindeswohl, das nicht vom Geschlecht, sondern von der Liebe der Eltern abhängt.
Wie liest es sich queer?
Ganz hervorragend. Es macht mehr Freude als eine heteronormative Lektüre und auch intellektuell reizvoller. Wenn ich „Tristan und Isolde“ mit dem Ziel lese, dass die beiden ein großartiges Liebespaar waren, bin ich nachher so klug wie vorher. Spannend wird es, wenn ich mir die Rolle von König Marke ansehe und wie die Geschlechterdifferenz von Tristan und Isolde inszeniert wird. Je genauer die Analyse, desto unselbstverständlicher wird der Text. Das ist für einen Literaturwissenschaftler eine gute Nachricht.
Kann man antiheteronormatives Lesen lernen?
Sicher, dafür gibt es Literaturwissenschaft. Aber auch auf der Couch, bei der Lektüre, reicht ein veränderter Blickwinkel, um eine neue Lesart zu finden, die man schon zu kennen glaubte.
Schwul darf man nicht mehr sagen, ist wohl manchen allzu igitt. Aber ist ein Kürzel wie LGBTQIA nicht irgendwie akademisch verblasen?
Die Formel LGBTQIA hat in bestimmten Diskursen ihren Sinn, man darf ja auch in der Physik sagen E=mc2. Für die Alltagsrede sind solche Kürzel natürlich kaum geeignet.
Sollten Märchen im heteronormativen Sinne umgedichtet werden?
Jede Lektüre ist bereits ein Umschreiben des Textes.
Aschenputtel könnte auch ein biomännliches Wesen sein?
Aschenputtel darf alles sein – was Sie sich vorstellen mögen.
Sind wir mit der Destruktion dessen, was man Natur nennt, nicht auf dem Weg in eine konstruierte Beliebigkeitsgesellschaft?
Das Problem ist nicht die Dekonstruktion des Begriffs Natur, mit dem man Heteronormativität als Naturtatsache begründet, sondern die Destruktion der Natur im Sinne von Umweltzerstörung. FRAGEN: JAN FEDDERSEN