Debatte EU-Binnenkontrollen: Politik der Schlagbäume

Der deutsch-französische Vorstoß für neue Grenzkontrollen innerhalb der EU ist nicht nur Wahlkampfgetöse. Die europäische Reisefreiheit ist tatsächlich in Gefahr geraten.

Es greift zu kurz, die Debatte über die Wiedereinführung von Grenzkontrollen im Schengenraum nur als deutsch-französisches Wahlkampfgetöse abzutun. Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich und sein französischer Kollege Claude Guéant haben sich zwar lautstark zusammengetan im Streit um nationale Souveränität und „illegale“ Migration.

Es geht dabei aber nicht nur um Populismus und Nationalismus. Sondern es geht im Kern um eine Neuausrichtung des Verhältnisses von Reisefreiheit und „Sicherheit“.

Es geht um Migration als Bedrohungsszenario und um eine neue Form der Grenzsicherungspolitik, für die Friedrich und seine EU-Kollegen selbst an den Grundfesten der EU rütteln und Verletzungen der EU-Verträge in Kauf nehmen.

Die Schengendebatte stand von Anfang an im Kontext der faktischen Aufrüstung europäischer Grenzen. In ihrem Beschluss vom vergangenen Juni forderten die Staats- und Regierungschefs der EU nicht nur neue Schengenregeln, sondern gleichzeitig den raschen Aufbau des neuen Europäischen Überwachungssystems Eurosur. Frontex soll mit Satelliten und Drohnen das Mittelmeer überwachen, um Flüchtlingsboote zu entdecken und abzufangen, ehe sie die europäischen Grenzen überhaupt erreichen. „Smart borders“ sollen ebenfalls kommen. Damit soll für 1,1 Milliarden Euro eine Mega-Ausländerdatenbank zur Überwachung von Reisebewegungen an den europäischen Grenzübergängen geschaffen werden.

Auch bei den neuen Schengenvorschlägen ging es von Anfang an darum, Migration zu unterbinden. Der klare Auftrag an die Kommission lautet, die Schengenregeln für den Fall zu erweitern, dass Teile der Außengrenzen unter unerwarteten Migrationsdruck geraten oder dass ein Mitgliedsstaat nicht in der Lage ist, seine Außengrenzen ausreichend zu kontrollieren. Daran haben vor allem Länder wie Deutschland und Frankreich Interesse, in denen kaum Flüchtlinge ankommen und die sich diese „komfortable“ Situation auch nicht durch Migrationsbewegungen innerhalb der EU verderben lassen wollen. Mit dem einstimmigen Beschluss des Europäischen Rates haben sie sich dafür Rückendeckung geholt.

Die EU-Kommission hat den Mitgliedsstaaten mit ihrem Vorschlag zur Änderungen der Schengenregeln deshalb zu Recht eine Ohrfeige erteilt. Statt nur, wie vom Rat gefordert, Vorschläge zum „Migrationsdruck“ zu machen, will sie, dass die Mitgliedsstaaten künftig grundsätzlich nicht mehr im Alleingang über die Wiedereinführung von Grenzkontrollen entscheiden – auch nicht bei politischen oder sportlichen Großereignissen.

Vielmehr soll das nur noch gemeinsam im sogenannten Komitologieverfahren auf Vorschlag der Kommission möglich sein. Das wäre auch in Zeiten von Rechtspopulismus ein starker Schutz für eine der größten Errungenschaften der EU, die Reisefreiheit.

Deutsche Vorreiterrolle

Unter Wortführer Friedrich hat sich im Rat dagegen scharfer Widerstand formiert. Die große Mehrheit der Mitgliedsstaaten pocht mittlerweile auf ihre nationale Entscheidungshoheit bei Grenzkontrollen. Auch die Verhandlungsführerin des Parlaments, die rumänische Liberale Renate Weber, ist eingeknickt. Die EU-Staaten sollen auch weiter im Alleingang entscheiden können. Sie müssen sich nur vorher mit den anderen betroffenen Mitgliedsstaaten und der Kommission beraten. Uns Grünen geht das nicht weit genug. Anders als die Mehrheitsfraktionen haben wir deshalb im EP-Innenausschuss gegen die Verwässerung des Kommissionsvorschlags gestimmt.

Bei den weiteren Verhandlungen geht es jetzt nur noch um die neuen Sonderregeln bei unerwartetem „Migrationsdruck“ und für den Fall, dass ein Mitgliedsstaat nachhaltige Defizite bei der Kontrolle seiner Außengrenzen hat. Darauf zielt auch der Brief von Friedrich und Guéant ab. Er ist nicht nur – offenbar gescheiterte – Wahlkampfhilfe, sondern auch ein Versuch, eine Mehrheit im Rat dafür zu organisieren, dass die Mitgliedsstaaten auch hier im Alleingang über Grenzkontrollen entscheiden können.

Nur wenn das Land die Kontrollen länger als 30 Tage aufrechterhalten will, soll der Rat auf Vorschlag der Kommission entscheiden. Das würde dem populistischen Druck auf Schengen Tür und Tor öffnen. Viele der anderen Länder liebäugeln deshalb bei den Sonderregeln mit dem Ansatz der Kommission, also einer gemeinsamen Entscheidung auf EU-Ebene.

Das Pikante an der Sache ist, dass die HausjuristInnen des Rats die Sonderregeln generell für rechtswidrig halten. In einem nichtöffentlichen Gutachten vom Dezember kommt der juristische Dienst des Rates zu dem Schluss, dass Grenzkontrollen überhaupt nur gerechtfertigt sind, wenn „eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr vorliegt, die die Grundinteressen der Gesellschaft berührt“.

Rechtswidrige Sonderregeln

So strikt interpretiert der Europäische Gerichtshof die Schengenregeln. Grenzkontrollen als Sanktionen gegen Mitgliedsländer, die ihre Außengrenzen nicht ausreichend kontrollieren, und damit deren faktischer Ausschluss aus dem Schengenraum, sind damit unvereinbar.

Mehr noch, wenn die Außengrenzen eines Mitgliedsstaates unerwartet unter starken Druck geraten, ist in den Verträgen unmissverständlich festgelegt, dass der Rat Maßnahmen zugunsten des Mitgliedsstaates erlassen kann, nicht gegen ihn. Wenn das Land nachhaltig schludrig ist bei der Kontrolle seiner Außengrenzen, seinen EU-Vertragsverpflichtungen also nicht nachkommt, kann die Europäische Kommission, wie in anderen Fällen auch, ein Vertragsverletzungsverfahren einleiten.

Das juristische Gutachten ist unmissverständlich. Trotzdem wird es im Rat weitgehend ignoriert. Es gibt eine klare politische Mehrheit sowohl für Grenzkontrollen als Sanktionen als auch für Grenzkontrollen bei „unvorhersehbaren Ereignissen“ an den Außengrenzen. Die Mitgliedsstaaten wollen die Reisefreiheit in der EU schützen durch eine Ausweitung der Schlagbaumpolitik. Das ist nicht nur paradox und inhaltlich falsch. Das ist auch vertragswidrig.

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