Urlaub im Kloster: Ist Gott Mönch?
Allein wegen der Auffassung vom Miteinander lohnt sich der Aufenthalt bei den Benediktinern in Gerleve. Das Kloster ist ein Uterus, der schützt.
Die Türme sieht man zuerst. Wuchtig ragen sie auf in der hügeligen Landschaft der Baumberge, bezeichnen den Ort des Benediktinerklosters, an dem man sonst leicht vorbeiführe, so allein liegt es da, bewusst Abstand haltend zu Dorf und Stadt. Oberhalb, an der Straße von Coesfeld nach Billerbeck, erinnert ein Gedenkstein an den ersten Bischof von Münster, den heiligen Liudger (um 742–809), der an dieser Stelle das Land segnete und damit den Grund, auf dem Kloster Gerleve knapp 1.100 Jahre später erbaut wurde.
Der erste Gang nach der Ankunft führt in die Kirche. Ihre klare, reine Romanik ist perfekt, weil sie kaum mehr als hundert Jahre zählt und kein Umbau, keine Zerstörung die ursprüngliche Formensprache veränderte. Diese an frühmittelalterliche Klöster erinnernde neoromanische Architektur im Stile des Historismus prägt die gesamte Anlage.
Spartanisch, aber geschützt
Der Autor: Ralf-Peter Märtin ist taz-Genosse und Journalist mit Schwerpunkt Geschichte. Seine letzte Buchveröffentlichung: Pontius Pilatus. Römer, Ritter, Richter. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt, 9,99 Euro. Pontius Pilatus, Roms Statthalter in Judäa, soll Jesus ans Kreuz gebracht haben. Märtin hat sich in die Fußstapfen des römischen Beamten begeben. Es ist ein anschaulicher, unterhaltsamer Ausflug in die Geschichte, der viel mehr erzählt als die viel zitierten Evangelisten.
Das Kloster: Die Benediktinerabtei Gerleve liegt zwischen Münster und Coesfeld. Anfahrt mit der Bahn bis Coesfeld, dann Taxi (10 km) oder Bus. Auch von Münster ist die Abtei über Linienbusse erreichbar. Der Tagessatz für Gäste (Unterkunft mit Vollpension) beträgt 45 Euro. Schüler, Studenten und Nichtverdiener bezahlen, soviel sie können. Anmeldung und Information Benediktinerabtei Gerleve, 48727 Billerbeck, Tel. (025 41) 80 01 66, Fax (025 41) 80 02 33, www.abtei-gerleve.de
Rechts vom Eingang der Kirche liegt die Klosterpforte, wo der Ankömmling dem ersten Mönch begegnet. Während der Gast seine Zelle sucht – es gibt nur zehn und sie sind ausschließlich für männliche Gäste reserviert –, fällt sein Blick auf die Namen seiner Mitbewohner auf Zeit, die auf dezent neben den Türen angebrachten Schildchen stehen. Bruder Matthäus, der für die Betreuung der Gäste zuständig ist, spricht nicht von Zellen – „Wir sind doch kein Gefängnis!“ –, sondern zu Recht von Zimmern. Die Räume sind weder zu groß noch zu klein mit Dusche, Toilette und Einbauschrank, Bett, Schreibtisch, Stuhl und Sessel, einer Leselampe. Kein Fernseher, kein Internet und wegen der dicken Mauern kaum Handyempfang.
Für den Gast ist Gerleve wie ein Uterus, der schützt und nährt. Die Außenreize sinken gegen null. Egal, was man ins Kloster mitgebracht hat, ein Problem, über das man in Ruhe nachdenken möchte, eine Weichenstellung des Lebens, die es vorzunehmen gilt: Hier finden sich Raum und Zeit. Und Stille. Und niemand drängt. Noch besser: Es drängt sich niemand auf. „Einfach nur da sein dürfen“, schrieb ein Besucher ins Gästebuch.
Zwang zum Stundengebet gibt es nicht
Wie ein Uhrwerk und völlig losgelöst von den Gästen geht das mönchische Leben Tag für Tag seinen geregelten Gang. Zwanzig nach fünf versammeln sich die Mönche zu den Vigilien und Laudes in der Abteikirche, um neun folgt die Messe, um zwölf Uhr mittags die Sext, zwei Stunden später die Non, um halb sechs die Vesper, Viertel nach acht beschließt die Komplet den Tag. Gerleve pflegt den gregorianischen Gesang, der bis ins 6. Jahrhundert zurückreicht. Der Forderung, man müsse im Hier und Heute leben, ist das Kloster immer schon nachgekommen. Der Rhythmus der Stundengebete feiert täglich das Geschenk des Daseins. Begreift man das erste am Morgen als Auferstehung und das letzte am Abend als Loslassen, ist es ein Versuch, in der Gegenwart zu leben und dem Tod als Freund zu begegnen.
In früheren Zeiten riss eine schnarrende Klingel um fünf Uhr morgens auch die Gäste aus dem Schlaf. Das ist Vergangenheit. Einen Zwang, zu den Stundengebeten oder zur Messe zu erscheinen, gibt es nicht. Doch wenn man liest, schreibt oder denkt, ist eine Pause eine willkommene Unterbrechung. Fast alle Gebete und die werktägliche Messe dauern in der Regel nie mehr als eine Viertel- oder höchstens eine halbe Stunde.
Beim Essen bleibt keiner allein
Mittag- und Abendessen werden zusammen mit den Mönchen eingenommen. Das mit Eichenholz getäfelte Refektorium hat die Ausmaße eines Rittersaales. An den Wänden entlang stehen wuchtige Tische, hinter denen die Mönche mit dem Rücken zur Wand Platz nehmen. In der Mitte dieses Hufeisens und damit von drei Seiten von Mönchen eingeschlossen und von ihnen „beobachtet“, steht der Gästetisch. Aus Fürsorge. „Alle Gäste sollen aufgenommen werden wie Christus“, lautet die Regel benediktinischer Gastfreundschaft. Die Mahlzeit verläuft schweigend. Nach dem Tischgebet beginnt auf ein Zeichen des Abtes der Vorleser mit der Tischlektüre.
Das kann eine Biografie, ein geschichtliches oder religiöses Werk sein, von Pater Daniel, Theologe und Bibliothekar, aus aktuellem Anlass ausgewählt. Das Schweigen ist keinesfalls unangenehm. Viel bewusster widmet man sich dem Essen. Für Pater Marcel, den Historiker des Klosters, hat jede Mahlzeit eine spirituelle Komponente: „Jesus Christus liebt es, mit Freunden zu Tisch zu sitzen. Bei Tisch bleibt keiner hungrig zurück, bei Tisch bleibt keiner allein.“
Gerleve ist Kultur- und Wirtschaftsbetrieb zugleich. Die Mönche betreiben ein Seminarhaus für Erwachsene, eine Jugendbildungsstätte und eine Buchhandlung, organisieren Vortragsreihen und Konzerte und geben eine eigene Zeitschrift heraus. Jeder verfügt über eine abgeschlossene Berufsausbildung. Viele haben sich zusätzlich qualifiziert. Das Spektrum reicht vom Krankenpfleger bis zum Hochschullehrer. Spezialisten für Kirchengeschichte sind genauso darunter wie Paartherapeuten, Historiker, Musiker, ein Ikonenmaler oder ein ehemaliger Banker. Mehr als die Hälfte haben akademische Abschlüsse und sind geweihte Priester.
Wer zweifelt bleibe draußen
Da es im Christentum, anders als beispielsweise in den Klöstern Asiens, kein Mönchtum auf Zeit gibt, ist nach einer vier- bis fünfjährigen Phase der Selbstprüfung die dann abgelegte „ewige Profess“, die Verpflichtung zu lebenslangem Mönchtum, theoretisch unwiderruflich. In der Praxis kann natürlich niemand gezwungen werden, im Kloster zu bleiben. Aber: „Wer zweifelt“, sagt Pater Heinrich, der Novizenmeister, „bleibe lieber draußen.“ Und schon gar nicht, weiß er aus Erfahrung, funktioniert die Flucht ins Kloster als Rückzugsort vor den eigenen Problemen. Die verstärkten sich dort nur. Von Werbung zur Nachwuchsförderung hielt schon der heilige Benedikt nichts: Schwer machen solle man es den Novizen, erst dann sei man sicher, dass nicht eine Laune, sondern göttliche Berufung zum mönchischen Dasein leite. Davon sind die Mönche von Gerleve überzeugt: Man muss wollen.
Mit seinen über vierzig Mönchen, der jüngste Anfang dreißig, der älteste 87 Jahre alt, ist in Gerleve noch eine Lebensform lebendig, die den wohl größten denkbaren Gegensatz zur modernen Lebenswelt darstellt. Wie kann jemand auf die Vorzüge individueller Freiheit verzichten wollen, um stattdessen die im Mönchsgelübde beschworenen Verpflichtungen des Gehorsams gegenüber dem Abt, der persönlichen Armut, der Keuschheit, dazu noch der „stabilitas“, die den Benediktiner auf das einmal gewählte Kloster „lebenslänglich“ festlegt, freiwillig einzuhalten?
Wäre Gerleve ein indischer Aschram oder ein buddhistisches Kloster, ließe sich das Mönchsein leichter erklären. Der von Buddha begangene achtfache Pfad zur Erleuchtung wird heute selbstverständlicher akzeptiert als das christliche Programm, Gott zu suchen in allen Dingen. Dabei läuft es in beiden Fällen auf das Gleiche hinaus: Der Mönch entscheidet sich für den Weg einer spirituellen Entwicklung – und die braucht Zeit. „Schritt für Schritt in Demut lernen von sich abzusehen, den anderen zu dienen und dadurch innerlich frei zu werden“, charakterisiert Pater Robert, der Stellvertreter des Abtes, diesen Prozess.
Der Anspruch auf Respekt und Achtsamkeit
Wie das immer wieder variierte musikalische Grundmotiv einer Symphonie wächst mit den Jahren aus der Gottsuche die Erkenntnis: Du bist geliebt von Gott, du kannst ihm vertrauen. In seinem Glauben geborgen, darf der Mönch darauf hoffen, dass es am Ende mit Welt und Menschheit gut ausgehen wird. Nicht nach Verzicht klingt das, sondern nach einer bewusst gewählten Alternative zum normalen Leben. Wie stets ist es eine Frage der Perspektive. „Mönchisches Leben und Lebensfreude“, zeigt sich Abt Laurentius überzeugt, „schließen sich nicht aus.“
„Letztlich“, sagt Pater Marcel, „ist nicht die Frage entscheidend, warum man eintritt, denn dann steht man ja erst am Anfang, sondern warum man bleibt.“ Seine Antwort ist klar. Gerleve ist für ihn ein Ort der Freiheit. Der Freiheit, sich Zeit zu nehmen, den anderen Zeit zu lassen. „Eine Schule im Dienste des Herrn, die mich fordert und in der ich jeden Tag Neues über meine Mitmenschen, über mich selbst und über Gott lerne.“ Beispielsweise, wie geduldig er ist. Und wie viel Zeit er hat. Ist Gott Mönch?
Trotz des gemeinsamen Ziels bestimmt eine freundliche Distanz die Beziehungen untereinander. Die Mitbrüder, verschieden in Herkunft, Bildung und Glaubensüberzeugungen, sind nicht als Sympathiegruppe definiert, sondern als Gemeinschaft von Gleichen, die Anspruch auf gegenseitigen Respekt haben.
„Manchmal“, räumt Pater Robert ein, „ist es nicht leicht, zu erkennen, dass die Charakterschwächen des anderen oft auch seine Stärken sind.“ Jeder Mensch, sagt Benedikt in der Regel, hat sein eigenes Maß. Gerade der Abt müsse der Eigenart jedes Einzelnen dienen, wenn er Vorbild sein wolle. Allein um dieser Auffassung vom menschlichen Miteinander zu begegnen, lohnt sich die Fahrt nach Gerleve. Wertschätzung zu erfahren und zu zeigen, achtsam miteinander umzugehen, sind fundamentale Prinzipien des Zusammenlebens und -arbeitens diesseits und jenseits von Klostermauern.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Vorgezogene Bundestagswahl
Ist Scholz noch der richtige Kandidat?
USA
Effizienter sparen mit Elon Musk
113 Erstunterzeichnende
Abgeordnete reichen AfD-Verbotsantrag im Bundestag ein
Ein-Euro-Jobs als Druckmittel
Die Zwangsarbeit kehrt zurück
Bürgergeld-Empfänger:innen erzählen
„Die Selbstzweifel sind gewachsen“
Aus dem Leben eines Flaschensammlers
„Sie nehmen mich wahr als Müll“