Online-Lesegewohnheiten: Klick – und weg bist du

Die Aufmerksamkeitsspanne der Leser von Internetmedien ist sehr kurz, bei mobilen Angeboten noch kürzer. Was bedeutet das für Journalisten und Verlage?

Nachrichten „to go“. Bild: ap

Überschrift lesen, Teaser lesen, bei Facebook, Twitter oder Google+ teilen, weg – so sieht der typische Nachrichtenkonsum online aus, beklagte das US-Onlinemagazin „Slate“ vor wenigen Tagen. Ein Datenjournalist der Firma Chartbeat hatte für es herausgefunden, dass viele Slate-Leser einen Text schon nach Lektüre weniger Absätze über Twitter verbreiten oder ihn kommentieren, statt ihn bis zum Ende durchzulesen. Ein Verhalten, dass sich auf viele andere Nachrichtenseiten übertragen lässt, meint der Webseitenanalytiker von Chartbeat.

Je mehr auf mobile Inhalte gesetzt wird, desto schwerer haben es lange Texte, online Leser zu finden. Ein 10.000 Zeichen langer Text wird wohl kaum auf einem Smartphone gelesen werden, während man auf einen Bus wartet. Und Auswertungen zur Verweildauer auf deutschen Newsseiten legen nahe, dass auch dort häufig Überschriften und Texte schnell überflogen werden: Überblick statt sorgfältiger Textexegese. Wir leben in einem Zeitalter des Scannens, schreibt Slate-Autor Farhad Manjoo.

Es ist schlicht eine Überlebensstrategie: Nicht nur das Angebot an Inhalten, das den Usern im Netz zur Verfügung steht, auch die Anzahl der Seiten, die sie jeden Tag durchforsten, steigt ständig. Und durch mobile Geräte ist all das jederzeit verfügbar – wenn auch oft eben nur halb bemerkt.

Wie die Medien darauf reagieren sollten? Schon vor einiger Zeit mahnte der Däne Jakob Nielsen, eine der führenden Persönlichkeiten auf dem Gebiet der Benutzerfreundlichkeit von Webangeboten: Die Menschen lesen online anders, deshalb muss man eben auch anders schreiben.

News im Netz anders zu präsentieren, anders zu erzählen – das fordern auch Journalisten häufig, wenn man ihnen die Fangfrage nach der Zukunft des Onlinejournalismus stellt. Denn auch den Textverliebtesten unter ihnen schwant allmählich, dass wir in einem stark visuell geprägten Zeitalter leben, in dem Videos, Bilder und Grafiken einfacher Aufmerksamkeit bekommen als „Bleiwüsten“.

Und während klassische Verlage noch tüfteln, wie ihre Inhalte für mobile Nutzer auf Minibildschirmen, Tablets und hinter Bezahlschranken zu organisieren sein könnten, basteln eine Reihe von US-Websites und Apps schon fleißig daran, die Binsenweisheit von Nielsen konkret auszugestalten.

Angenehm zu lesen und einfach zu teilen

Die App cir.ca zum Beispiel bereitet Nachrichten gezielt für mobile Nutzer auf. Ihre Redakteure fassen das Wichtigste in wenigen Sätzen zusammen, sodass die Textchen garantiert auf einen Smartphonebildschirm passen. Aufgemotzt wird das mit Fotos, Grafiken, abgesetzten Zitaten und Links zu weiteren Artikeln für alle, die es etwas genauer wissen wollen. Das ist angenehm zu lesen und einfach zu teilen. Schwierig wird es erst, wenn man sich dafür interessiert, woher all diese Informationen eigentlich stammen. Erst das Antippen eines Infobuttons ruft verlinkte Quellenangaben auf.

Das Blog netzwertig.com fürchtet deshalb, dass sich cir.ca etwas zu sehr an den Recherchen anderer Medien bedient, ohne sie zu nennen. Tatsächlich müht sich cir.ca sehr viel weniger als zum Beispiel Google News, den Redaktionen, deren Journalisten die Nachrichten erst ausgebuddelt haben, Leser auf die Seite zu spülen.

Fraglich ist sicher auch, ob cir.ca für Berichte über komplexere Themen taugt. Oft wären mehr Differenzierung, diverse Stimmen und Einordnung nötig. Andererseits: Nach Lektüre einer Nachricht bei cir.ca ist man sicherlich besser informiert als nach der Lektüre eines Tweets, bei dem man mal wieder den angefügten Link nicht öffnen konnte. Oder als nach einem halbherzigen Scan über die Spiegel-Online-Startseite.

Wie viel Potenzial in dieser Idee für Expressnachrichten steckt, zeigt auch eine der jüngsten Akquisen des US-Internetkonzerns Yahoo. Der kaufte im März für angeblich 30 Millionen Dollar die App Summly, die sich auf das Kürzen von Nachrichtentexten auf Smartphone-Bildschirmlänge von maximal 400 Zeichen spezialisiert hat.

Dutzende verschiedener Überschriften

Und noch eine andere Entwicklung im Netz hat vor allem bei jungen Nutzern Erfolg: Binnen eines Jahres schaffte es upworthy.com auf mehr als zehn Millionen Klicks pro Monat. Auf der Seite werden Inhalte aggregiert, also gesammelt und angehäuft, gerne solche mit einer besonders emotionalen oder irgendwie gesellschaftspolitischen Botschaft. Meist werden Videos oder Bilder mit ein paar Sätzen angetextet – und Dutzende verschiedener Überschriften ausgetestet, um dies möglichst optimal anzupreisen.

Aggregatorendienste wie Upworthy haben mit ihrem anarchischen Nebeneinander von Klatsch, Tränendrüsengeschichtchen und Politik wenig zu tun mit redaktioneller Auswahl, Übersichtlichkeit oder nachrichtlichem Vollangebot. Andererseits werden hier neue Netzhypes verbreitet, über die klassische Nachrichtenseiten Tage oder Wochen später ebenfalls berichten – einfach, weil Leser den Stoff lieben.

Und: Die eine oder andere Idee, wie man auch noch morgen Nutzer unterhalb des Rentenalters anspricht, könnten sich traditionelle Newsseiten hier sicher auch abschauen. Etwa die Überschriften ähnlich sorgfältig zu optimieren, statt einfach auf den Genius eines Redakteurs zu vertrauen. Oder sich eben einzugestehen, dass manchmal ein einziger kurzer Absatz Text ausreicht, um den Nutzer für ein Thema, ein Video, eine Infografik zu interessieren.

„Küchenzuruf“ haben Journalisten das einst genannt: eine Nachricht so eng zu verpacken, dass man ihren Kern noch im dicksten Kochlärmgeklapper erfassen kann. Also muss sie in einen Absatz passen. Danach klicken die meisten ja eh weiter.

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