: Ganz legale Übergriffe
RECHT Was bei normalen BürgerInnen Körperverletzung, Folter oder unterlassene Hilfeleistung wäre, ist bei der Polizei manchmal erwünschtes Tun – selbst wenn es dabei Tote gibt
VON SIMONE SCHNASE
Menschen erleiden unter den Händen von PolizistInnen Demütigungen, Verletzungen – und manche sterben. Nicht immer ist, was da geschieht, im juristischen Sinn unverhältnismäßig oder gar illegal. Auch nicht bei dem aus Sierra Leone stammenden Laye Condé, der Anfang 2005 in Bremen an den Folgen einer unter Zwang durchgeführten Brechmittelvergabe starb. Niemand hat etwas falsch gemacht – so sah es zumindest das Landgericht Bremen. Was für ganz normale Bürger moralisch verwerflich ist und juristisch zu ahnden, ist es nicht auch für die Polizei.
Die zwangsweise Vergabe von Brechmitteln zum Zwecke der „Beweissicherung“ – dem Erbrechen angeblich verschluckter Drogenkügelchen – war von 1992 bis 2005 erlaubte und gängige Praxis in der Bremer Polizeiarbeit. Auch in Hamburg bekamen mutmaßliche Drogenhändler, die sich weigerten, ein Brechmittel zu schlucken, von 2001 bis 2006 eine Nasensonde eingeführt. Darüber flößte ein Polizeiarzt dem meist fixierten Festgenommenen Wasser und das Brechmittel Ipecacuanha ein.
In Hamburg starb nach einer solchen „Behandlung“ der Afrikaner Achidi John im Krankenhaus an Herzstillstand – der Senat hielt an der Praxis fest. Und in Bremen sagte der damalige Innensenator Thomas Röwekamp (CDU): „Schwerstkriminelle müssen mit körperlichen Nachteilen rechnen.“ Da lag der weder vorbestrafte noch verurteilte Condé bereits im Koma, aus dem er nicht wieder erwachte.
Beide Fälle gingen vor Gericht. Das Hamburger Verfahren wurde eingestellt, in Bremen endeten zwei Prozesse mit Freisprüchen für den angeklagten Polizeiarzt. Beide hob der Bundesgerichtshof wieder auf, den letzten Freispruch bezeichnete er als „fast grotesk falsch“. In wenigen Tagen endet der dritte Prozess, und vieles deutet darauf hin, dass er entweder eingestellt wird oder wiederum mit einem Freispruch endet.
„Warum sollte es bei der Polizei ein Unrechtsbewusstsein geben, wenn ihr Tun gedeckt und gebilligt wird?“, fragt Vera Bergmeyer von der Condé-Ini. Die Ärztin schließt sich der Bundesärztekammer an, die sich bereits 2002 ausdrücklich gegen die Brechmittel-Vergabe ausgesprochen hat. „Auch wenn er gegen jede medizinische Ethik verstoßen hat: Der angeklagte Polizeiarzt ist nur Teil einer Struktur, die Grenzüberschreitungen und Zwangsbehandlungen überhaupt erst ermöglicht.“
Bis heute haben sich weder Thomas Röwekamp noch der damalige Bremer Justizstaatsrat Ulrich Mäurer (SPD) für die Brechmittel-Drogenpolitik entschuldigt, die vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte 2006 untersagt und als „Folter“ bezeichnet wurde. Mäurer lobte noch wenige Monate vor Condés Tod die Ermittlungserfolge: „Mein Dank gilt auch den Polizeibeamten und den Ärzten, die mit der Erledigung ihrer unappetitlichen Aufgabe die Voraussetzungen dafür schaffen, dass die Täter bestraft werden können“, sagte er dem Weser-Kurier. Inzwischen ist Mäurer Innensenator und nannte erst vor wenigen Tagen das Verhalten von sechs Polizisten, die zusahen, wie ein Kollege einen Wehrlosen verprügelte, „völlig korrekt“.
„Die Polizei bewegt sich in einem abgeschlossenen System“, sagt Bergmeyer, und das habe nichts mit „Bürgern in Uniform“ zu tun oder mit dem Selbstbild, man repräsentiere den Querschnitt der Bevölkerung. Dieser nämlich würde etwa die Untätigkeit der „völlig korrekt“ handelnden Bremer Polizisten als unterlassene Hilfeleistung bewerten. „Das Polizei-System ist streng hierarchisch geordnet“, sagt Bergmeyers Kollegin Gundula Oerter. „Wer nach oben will, muss mitmachen und still halten.“
Immerhin: Bremens Polizeipräsident Lutz Müller hat mittlerweile Bedauern über Condés Tod geäußert. Er plane, eine Gedenktafel im Polizeirevier aufzuhängen sowie an einer Broschüre zu dem Fall mitzuwirken. „Lippenbekenntnisse“, sagt Oerter. Sie fordert die Einrichtung einer unabhängigen Kontrollinstanz und einer externen Ermittlungsstelle, „bei der sich Betroffene über Polizeigewalt beschweren können, ohne direkt mit einer Gegenanzeige rechnen zu müssen“.
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