Flyer gegen Straßenmagazin in Münster: Ruhe im Vorgarten
Volkszorn ist en vogue: Selbst dort, wo mehrheitlich Rot-Rot-Grün gewählt wird, will man keine Ausgegrenzten haben. Aktuell zu erleben in Münster.
Noch sind sie gar nicht da. Doch die Nachbarn sind schon alarmiert. „Dieses Viertel wird jetzt zum neuen sozialen Brennpunkt in Münster“, steht auf einem Flyer, der Anfang dieser Woche in ihren Briefkästen gelandet ist. „Gewalt, Drogen, Lärm, Alkohol, Vermüllung und Belästigungen stehen uns ins Haus“, warnen die unbekannten Verfasser.
Ob es um eine Flüchtlingsunterkunft, ein Obdachlosenheim oder eine Fixerstube geht: Solcherlei Pamphlete zur Mobilisierung des Volkszorns sind in jüngster Zeit en vogue geworden. Der deutsche Michel will keine Ausgegrenzten und Ausgestoßenen in seiner näheren Umgebung. Man bleibt lieber unter sich. Der Kiez oder das Veedel soll „sauber“, sprich: homogen bleiben. Das Ungewöhnliche in diesem Fall: Diesmal trifft die unfreundliche Begrüßung eine Zeitschrift.
draußen! heißt das Blatt – und es ist ein Straßenmagazin. Der Zorn der anonymen Flugblattautoren zielt auf die Verkäufer: Obdachlose, Hartz-IV-Empfänger und osteuropäische Armutsflüchtlinge. „Durch eine finanzkräftige Interessenslobby und eine linke Mehrheit im Stadtrat braucht diese Gruppe sich eigentlich an keinerlei Gesetze, Regeln und Pflichten zu halten“, wird in dem Flyer gehetzt. „Da stehen unglaubliche Behauptungen drin“, sagt draußen!-Redakteur Carsten Scheiper empört.
Seit 1994 existiert das Straßenmagazin. Ein Jahr später entstand der gemeinnützige Trägerverein. Heute wird das Blatt, das sich nicht ganz unbescheiden als „die Medienalternative für Münster und das Münsterland“ bezeichnet, von einer vierköpfigen Redaktion erstellt, die von zahlreichen freien Mitarbeitern unterstützt wird.
Vorurteile gegenüber Verkäufern
Die Auflage beträgt 9.000 Exemplare. Laut Selbstdarstellung dient das Magazin der „Hilfe zur Selbsthilfe für Wohnungs- und Langzeitarbeitslose sowie Alg-II-Empfänger“. Zu den rund 80 Verkäufern gehören darüber hinaus Migranten aus Rumänien und Bulgarien.
„Inzwischen sind die bei uns ganz gut integriert“, sagt Scheiper. Mehrere Familien würden sich mit dem Zeitungsverkauf über Wasser halten, berichtet er. Allerdings würden gerade die osteuropäischen Verkäufer immer wieder auf erhebliche Vorurteile stoßen.
Ihren Sitz hat die Zeitschrift derzeit am Berliner Platz im Bahnhofsviertel. Doch die Verhältnisse im dritten Stock eines Bürohauses sind beengt. Deshalb suchte das draußen!-Team seit Längerem nach neuen Räumen in der Innenstadt. Größer und vor allem ebenerdig sollten sie sein, weil einige der obdachlosen Verkäufer schlecht zu Fuß sind. Außerdem sollten sie die Möglichkeit bieten, an die Verkäufer täglich ein Mittagessen auszuteilen. „Wir haben lange suchen müssen“, sagt Scheiper. Immer wieder gab es Absagen. Nicht selten aufgrund von Vorbehalten gegen ein Straßenmagazin, ist er überzeugt. „Aber das sagt Ihnen ja keiner ins Gesicht.“
Redaktion erstattete Strafanzeige
Schließlich fand sich doch noch ein passendes Ladenlokal. Das neue Domizil in der Von-Kluck-Straße, das im Dezember bezugsfertig sein soll, befindet sich etwa 800 Meter Fußweg von den bisherigen Redaktionsräumen entfernt im Zentrum Münsters. Das Viertel gilt als rot-rot-grüne Hochburg: Bei der vergangenen Bundestagswahl holten SPD, Grüne und Linkspartei in dem Wahlbezirk, in dem die Von-Kluck-Straße liegt, zusammen fast 63 Prozent der abgegebenen Stimmen.
Rechtsextreme und rechtspopulistische Parteien hatten hingegen nichts zu melden: Die NPD, Die Rechte, Pro Deutschland und Republikaner erhielten keine einzige Stimme; die AfD kam auf 17 von insgesamt 1.662 Stimmen. Das klingt beruhigend. Wäre da nicht dieser Flyer. Das draußen!-Team hat inzwischen Strafanzeige erstattet. Aus der Politik gebe es eine große Solidarität, berichtet Scheiper. Aber auch mehrere der künftigen Nachbarn hätten sich bei der Redaktion gemeldet und ihre Empörung über das Traktat bekundet.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Interner Zwist bei Springer
Musk spaltet die „Welt“
Gastbeitrag in der „Welt am Sonntag“
Bequem gemacht im Pseudoliberalismus