Umzug statt Aufnahmestopp: Die Hamburger Tafeln sind überlaufen

Weil immer mehr Menschen dort Lebensmittel holen, haben einige Ausgabestellen einen Aufnahmestopp verhängt. Die größte, in der Siedlung Osdorfer Born, geht einen anderen Weg.

Kommt oft direkt aus dem Supermarkt: Gemüse der Tafel. Bild: dpa

HAMBURG taz | Eisiger Wind weht um die sechs bunten Häuser, die wie hingeworfen auf der Wiese stehen, umrahmt von den Hochhäusern der Hamburger Großsiedlung Osdorfer Born. Vom Sozialkaufhaus über einen Seniorentreff bis zur Elternschule: 19 Initiativen und Vereine sind in der ehemaligen Grundschule untergebracht. In das knallrote Haus mit den bodentiefen Fenstern gleich an der Einfahrt zieht nun die größte Ausgabestelle der Hamburger Tafel ein. Ihre alten Räume sind zu klein geworden für den stetig wachsenden Andrang.

Ein Problem nicht nur am Osdorfer Born: Weil sich immer mehr Menschen dort Lebensmittel holen, sieht sich die Hamburger Tafel, die fast ausschließlich mit Ehrenamtlichen arbeitet, langsam an der Kapazitätsgrenze. Was tun, wenn die Zahl der Bedürftigen die Mittel übersteigt? Die Antwort einiger Ausgabestellen: Aufnahmestopp.

„Ich halte nichts davon, Menschen wegzuschicken und auf Wartelisten zu setzen“, sagt Roland Schielke vom Stadtteilbüro Osdorfer Born. Zusammen mit dem Diakonischen Werk Hamburg-West/Südholstein und in Kooperation mit der Hamburger Tafel gibt das Stadtteilbüro Lebensmittel an Bedürftige aus. Die inzwischen 700 Kunden hat man in zwei Gruppen aufgeteilt: 350 kommen an dem einen Freitag, die anderen 350 am Freitag darauf und so weiter.

Die Idee für die Tafeln kommt aus den USA. Die erste deutsche Tafel wurde 1993 in Berlin gegründet. Seit 1994 gibt es in Göttingen und Hamburg Tafeln, 1995 folgten Kiel und Bremen, 1996 Osnabrück, 1999 Hannover. Nach Angaben ihres Bundesverbandes gibt es inzwischen mehr als 900 Tafeln.

Die Lebensmittel kommen aus Supermärkten, Bäckereien, Hotels, Großküchen oder von der Lebensmittelindustrie.

An die Hamburger Tafel spenden etwa 180 Lieferanten Lebensmittel, dazu kommen Geldspenden. Sie beliefert derzeit 17 Ausgabestellen in der Stadt. Aber auch Tafeln in Niedersachsen, Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein bedient das Zentrallager.

Pro Woche verteilt der "Hamburger Tafel e. V." nach eigenen Angaben 20 Tonnen Lebensmittel an geschätzt 15.000 Menschen. Außerdem werden knapp 80 soziale Einrichtungen mit Essen oder auch Kleidung versorgt, darunter neben Obdachloseneinrichtungen auch Häuser der Jugend, Elternschulen sowie Einrichtungen der Kinder- oder Drogenhilfe.

Die Finanzierung besorgt seit 2002 die Annemarie-Dose-Stiftung. Dose hatte die Hamburger Tafel 1994 gegründet. ILK

In den alten Räumen mussten die Menschen auf der Straße warten bis sie an der Reihe waren, auch schon mal eine oder zwei Stunden. Dort gab es nur eine Tür, wer rein oder raus wollte, muss sich dort durchschieben. Im neuen roten Haus gibt es ein Café, wer will, kann hier auch für 2,50 Euro ein Mittagessen bekommen oder einfach nur im Warmen warten. Und der neue Ausgaberaum mit dem roten Linoleumfußboden, der auch für Yoga-Gruppen oder Kinderturnen genutzt wird, hat zwei Türen: rein über den Flur, raus durch eine Tür in der Glasfront. Es wird also künftig weniger Gedränge geben.

Während des Umzugs wird zwei Wochen lang nichts verteilt. „Einige Kunden haben schon etwas gemurrt“, sagt Schielke. Die Hilfe wird oft als eine Selbstverständlichkeit betrachtet. Dabei sollte sie eigentlich nur ein kleines Zubrot sein, um mit dem gesparten Geld vielleicht ins Kino oder ins Schwimmbad zu gehen. Schielke, 60, ist Sozialpädagoge. Wer im Osdorfer Born Lebensmittel bekommen will, meldet sich bei ihm im Stadtteilbüro an. Rund 10.000 Menschen wohnen in der 1972 fertiggestellten Siedlung, beinahe jeder Dritte bezieht Hartz IV. Im Bezirk Hamburg-Altona, zu dem das Quartier gehört, sind es durchschnittlich 9,5 Prozent.

Die einen kommen ohne zu zögern zu Schielke und nehmen die Unterstützung an. Die anderen versuchen alles, um allein zurechtzukommen – bis es einfach nicht mehr geht. Es sind immer häufiger ältere Menschen. Gerade wegen dieser zweiten Gruppe hält Schielke einen Aufnahmestopp für falsch: „Wenn die Menschen ihre Scham überwunden haben und wir sie dann wegschicken, ist das ein ganz falsches Signal.“ Für einen zweiten Anlaufe fehle ihnen vielleicht der Mut.

Zuerst, 2007, wurden die Lebensmittel im Einkaufszentrum verteilt. Das ging nicht lange gut, bald schon störten sich Kunden und Inhaber der anderen Geschäfte an der Menschentraube, die sich an den Ausgabetagen bildete. Also zogen man um, in den Keller des Einkaufszentrums. „Wir waren damals die erste Ausgabestelle der Tafel in Hamburg und es ist Wahnsinn, was wir an Lebensmitteln bekamen“, erinnert sich Schielke.

Er schließt die Tür zu einem der neuen Lagerräume auf. Hier stapeln sich Kartons, in der Ecke steht eine Tiefkühltruhe. Nebenan, im Raum mit dem roten Boden, wird künftig immer freitags verteilt. Möglichst würdig, wie Schielke sagt: So werden hier keine Tüten abgepackt, sondern auf Klapptischen „Stationen“ aufgebaut, vom Gemüse bis zum Fleisch. Die Kunden können sich aussuchen, was sie mögen.

Heute können am Osdorfer Born längst nicht mehr so viele Lebensmittel verteilt werden wie noch vor sieben Jahren: Die Spenden müssen mit rund 20 anderen Ausgabestellen in der Stadt geteilt werden. Jeder dieser Orte baut sich ein Netzwerk auf, bekommt etwa das nicht verkaufte Brot aus den umliegenden Bäckereien. Diese kalkulierten Überproduktion ein, sagt Schielke: „Damit die Regale immer voll sind.“

Einen großen Teil ihrer Lebensmittel bekommen alle Ausgabestellen von der Zentrale der Tafel, die seit sechs Jahren in einem Gewerbegebiet im Stadtteil Barmbek untergebracht ist. Hier stehen, in einer 1.200-Quadratmeter-Lagerhalle samt Kühl- und Tiefkühlbereich, palettenweise Salz, Dosensuppen, Nudeln, Chips, Tee, Cornflakes.

Die Lebensmittelindustrie spendet heute auch direkt an die Tafel, Ladenhüter oder sogenannte Knickware, also Konserven mit Beulen. Mehr als zwei bis drei Prozent dieser Knickware duldet die Industrie nicht – und mustert dann lieber ganze Chargen aus. Die Unternehmen sparen sich dank der Tafeln die Entsorgung und können die Herstellungskosten als Spende absetzen.

In einer großen Holzkiste sind dreibeinige oder krumme Möhren gelagert: die Spende eines Biobauern, der solches, nicht konformes Gemüse nicht los wird. Die Tafel-Zentrale beschäftigt zurzeit drei festangestellte Mitarbeiter, dazu zwei Bundesfreiwilligendienstler. Sie koordinieren die Arbeit von mehr als 100 ehrenamtlichen Helfern. Die Frühschicht fährt morgens mit Transportern los, sammelt bei den Supermärkten die Ware ein. In der Zentrale. Hier wird ausgeladen, aussortiert, die Transporter werden wieder beladen, die Spätschicht beliefert dann die Ausgabestellen.

Die Ursprungsidee der Tafel war einmal, Obdachlose mit Lebensmitteln zu versorgen. Heute hat geht es zunehmend darum, überflüssige Lebensmittel an Bedürftige zu verschenken. „Der wachsende Andrang ist einerseits Resultat wachsender Armut, andererseits auch ein Zeichen sinkender Hemmschwellen, derlei Angebote zu nutzen“, sagt Luise Molling, Mitbegründerin des Kritischen Aktionsbündnisses 20 Jahre Tafel.

Die 33-Jährige ist wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Forschungsprojekt „Tafel-Monitor“ der Hochschulen Furtwangen und Esslingen, das die Nutzer- und Helferperspektive auf Tafeln untersucht. „Die Gesellschaft hat sich daran gewöhnt, dass Armut nicht politisch bekämpft, sondern nur noch durch Almosen gelindert wird“, sagt sie.

Den Umzug einer Ausgabestelle in ein größeres Gebäude hält sie für den falschen Weg: „Immer nur weiter zu wachsen und sich zu professionalisieren bedeutet für die Tafeln, immer zuverlässiger die Lücken zu füllen, die der Sozialabbau hinterlässt.“ Es sei nur eine Frage der Zeit, bis in Deutschland ähnlich wie in den USA Bedürftige statt Arbeitslosengeld nur noch Gutscheine für die Tafeln erhielten. Außerdem funktioniere das ganze System angebotsinduziert: Je mehr Tafeln es also gebe, desto mehr würden sie auch genutzt.

„Wir kennen diese Kritik“, sagt Achim Müller. Der 70-Jährige hat früher Wohnungen vermietet und kam vor acht Jahren zur Tafel, weil ihn der Ruhestand langweilte. Er nennt sich selbst eine Art Mädchen für alles in der Zentrale der Hamburger Tafel, montags bis donnerstags ist er hier und kümmert sich. „Aber wir sehen auch, dass das Geld, was der Staat den Bedürftigen zahlt, einfach nicht ausreicht, und wenn wir da eine Lücke schließen können, dann machen wir das.“

Für Schielke ist die Sache weniger eindeutig: „Eigentlich wäre es besser, wir würden es mal darauf ankommen und alles zusammenfallen lassen“, sagt er. Denn solange man hier Lebensmittel verteile, falle es viel weniger auf, dass die Grundsicherung einfach nicht ausreiche. Er mag es nicht, dass häufig Journalisten kommen, um mal arme Menschen anzuschauen, zu fotografieren oder zu filmen. Es stört ihn auch, dass die Ausgabestellen immer mehr als ganz selbstverständlicher Teil des Hilfsangebots betrachtet werden – sowohl von der Arbeitsagentur, die etwa Hartz-IV-Bezieher zu ihnen schickt, als auch von den Tafel-Kunden selbst.

„Es müsste ein politisches Interesse bestehen, Armut nachhaltig zu bekämpfen“, sagt Kritikerin Molling. Der Mindestlohn wäre ein kleiner Schritt, aber ohne Maßnahmen wie eine deutliche Anhebung der Regelsätze, das Ende der Sanktionspraxis, eine existenzsichernde Mindestrente und kostenloses Schulessen seien viele Menschen weiter auf die Tafel angewiesen.

„Wir diskutieren oft darüber, ob es eigentlich gut und sinnvoll ist, was wir hier tun“, sagt Roland Schielke vom Stadtteilbüro Osdorfer Born, „oder ob wir nicht gerade dadurch das System am Laufen halten.“ Und dann komme man doch immer zu dem Ergebnis, die Kunden nicht hängen zu lassen – und mache weiter.

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