Am kurzen Ende
: Gerichtsvollzieherin

Mitleidig schaut sie mich an

Der Gerichtsvollzieher, der eine Frau ist, kommt zu einem ungünstigen Zeitpunkt. Ich bin gerade am Packen, um das Weite zu suchen, aber weil jemand (wahrscheinlich die Gerichtsvollzieherin) die Luft aus den Reifen meines Autos gelassen hat, hatte ich anderes zu tun. Aber ich will gar nicht flüchten, sondern ich will mich empören und deshalb habe ich meinen jährlichen Beitrag an die Industrie- und Handelskammer nicht bezahlt.

Bevor ich aber zu einem flammenden „J’accuse“ ansetze, bitte ich die in eine gesteppte Wurstpelle eingewickelte Gerichtsvollzieherin höflich in die Wohnung und sage: „Schade, ich dachte, Sie würden erst morgen kommen. Dann wäre ich nämlich nicht da gewesen.“ Ich glaube, sie ist Schlimmeres gewöhnt. „Samstag arbeiten wir nicht“, sagt sie. Klar, Finanzbeamtin. „Ich kenne diesen komischen Verein überhaupt nicht und beigetreten bin ich dem schon gar nicht. Ich weiß nicht, was diese IHK macht und tut, außer rechtschaffene Leute wie mich mit Fantasierechnungen zu belästigen. Warum also soll ich 500 Tacken zahlen?“, lege ich mich rhetorisch ins Geschirr. Jeder Handwerksbetrieb ist Mitglied der IHK, antwortet die Frau. „Betreibe ich mit meinem Verlag etwa ein Handwerk? Und wird man bei der IHK Zwangsmitglied, so wie unter den Nazis?“ Damit müsste ich sie in die Enge getrieben haben, denke ich, aber die Frau sieht mich mitleidig über den Rand ihrer randlosen Brille an und sagt: „Dafür bin ich nicht zuständig. Ich bin nur beauftragt, die Außenstände einzutreiben.“ Typisch, denke ich, nicht mal ein richtig schöner Nazivorwurf lockt solche Leute aus der Reserve.

„Zahlen Sie?“, fragt sie unbeeindruckt. Ich zahle. Aber nur unter Vorbehalt. Ich gebe zu Protokoll, dass ich die IHK für einen üblen Abzockerverein halte. Jawoll! Die Gerichtsvollzieherin zuckt mit den Schultern und zählt die Scheine.

KLAUS BITTERMANN