: Die Kulturhauptstadt im fernen Osten
SLOWAKEI Zusammen mit Marseille ist das ostslowakische Kosice europäische Kulturhauptstadt 2013
BLANKA BERKYOVA
VON ROBERT B. FISHMAN
Die Tschechoslowakische Sozialistische Republik liegt im alten jüdischen Viertel gleich neben der „stinkenden Katze“ schräg gegenüber der Synagoge. In dem jüdischen Gotteshaus stellt Viktor Sefcik seine Werke aus. Sefcik hat in New York gelebt, in Italien und an ein paar anderen Orten, aber schließlich ist er doch zurückgekommen ins heimische Kosice. „Die Hauptstraße“ habe er am meisten vermisst, sagt er leise nach einigem Überlegen.
Der 50-Jährige mit dem grau gewordenen Bart und der Halbglatze schlägt sich als freier Maler durchs Leben – bescheiden zwar, aber er findet doch immer wieder Käufer für seine leuchtend bunten Bilder.
Sefciks rebellische Zeit lag vor der „Wende“ 1989. Damals protestierte er gegen die realsozialistische Diktatur, die das Land nach dem „Prager Frühling“ fest im Griff hatte. Mit einigen alten Künstlerfreunden hat er den Verein C + S Art gegründet. Ihr Ziel: Kunst, Kultur und die Wiedervereinigung mit Tschechien. Früher, sagt Sefcik, sei es für die Kunst besser gewesen.
Bis 1918 war das damals habsburgische Kaschau eine reiche Bürger- und Handelsstadt am Nordrand des großen ungarischen Königreichs. Nach dem Ersten Weltkrieg verteilten dann die Siegermächte den größten Teil Ungarns an die neuen Nachbarländer. Transsylvanien wurde rumänisch, weite Teile des Südens fielen an Jugoslawien, und der Norden mit seinem Zentrum Kosice gehörte von nun an zur Tschechoslowakei. Lange hat es gedauert, bis die österreichisch-ungarische Bürgerstadt dort heimisch wurde. Noch heute ist Ungarisch neben Slowakisch Alltagssprache in Kosice.
In seinen Romanen wie den „Bekenntnissen eines Bürgers“ beschreibt der 1900 im damaligen Kaschau geborene Schriftsteller Sándor Márai, wie die gut situierten Familien der Stadt Slowaken nur als Bauern oder Dienstboten erlebten. In den besseren Kreisen sprach man Deutsch oder Ungarisch, orientierte sich nach Budapest und Wien. Zu spüren ist das Flair der untergegangenen K-u.-k-Monarchie entlang der Hauptstraße mit ihrem großen, reich verzierten Opernhaus, der östlichsten katholischen Kathedrale Europas, dem klassizistischen Bischofssitz, einigen Jugendstilbauten und den alten Kaffeehäusern. Über die gut einen Kilometer lange Hauptstraße Hlavna Ulica zogen einst Pferde die städtische Straßenbahn.
Der real existierende Sozialismus hat um die komplett erhaltene Kosicer Altstadt einen dicken Ring aus Plattenbauten gelegt. Die Prager Planer verordneten der Stadt im fernen Osten – nahe der Grenze zum großen Bruder Sowjetunion – ein gigantisches Stahlwerk. Kosice musste möglichst schnell Wohnraum für die Arbeiter und ihre Familien schaffen. So entstanden in wenigen Jahren Plattenbauten für 50.000 Menschen. Inzwischen gelten die renovierten Betonkästen als beliebte Wohnquartiere.
Einzig das Viertel Luník IX verrottet zunehmend. Einst siedelten Stadt und Zentralregierung hier Roma, Polizisten und Mitarbeiter der Staatssicherheit an. Inzwischen wohnen in den verfallenden Betonklötzen fast nur noch Roma.
„Die Stadt hat sich 20 Jahre lang um nichts gekümmert“, kritisiert Blanka Berkyova, eine der wenigen Roma, die sich aus dem Teufelskreis von Armut, Ausgrenzung und fehlender Bildung befreit hat. Für die Kulturhauptstadt leitet die 37-jährige Landschaftsarchitektin das Projekt „SPOTs“ für Bürgerbeteiligung und Stadtteilentwicklung. In den Umbau von sechs alten Heizkraftwerken zu Stadtteilzentren haben Stadt und EU mehr als eine halbe Million Euro investiert.
Nachbarn kommen zu Sportturnieren, Kuchenbackwettbewerben, Theater- und Malworkshops. Lokale Künstler bemalen gemeinsam mit Anwohnern graue Fassaden und bestücken Kunstausstellungen in den Stadtteilzentren mit ihren Werken. Anfangs hatten Berkyova und ihre Mitstreiter alle Mühe, die Anwohner für die Stadtteilkultur zu gewinnen. Doch inzwischen sind die Veranstaltungen gut besucht.
Die Europäische Kulturhauptstadt will mit Projekten wie SPOTs in Kosice auch wirtschaftlich neue Perspektiven schaffen. Junge, kreative Unternehmen sollen die alten Industriearbeitsplätze ersetzen. Aus einer ehemaligen Kaserne entsteht ein Kulturpark, aus dem verfallenden Hallenbad eine Kunsthalle.
Bürgermeister Richard Rasi nennt in einem Interview das Ruhrgebiet als Vorbild: „Wir wollen eine Umgebung schaffen, die die Zusammenarbeit junger, kreativer Köpfe fördert.“ Bisher ziehen die meisten Absolventen der drei Universitäten weg. Sie hoffen in der Hauptstadt Bratislava, in Wien oder noch weiter im Westen auf besser bezahlte Jobs.
Heute seien die Zeiten „schlecht für die Kunst“, klagt Maler Viktor Sefcik. Melancholisch dreinblickend nippt er an seinem Kaffee. Viele Künstler und andere Kreative sitzen gern im „Smelly Cat“, der „stinkenden Katze“ unter Schwarzweißfotos aus New York und Paris auf alten Sofas und Ohrensesseln.
Die jüdische Gemeinde hat seinem Verein C + S Art ihre alte Synagoge für Ausstellungen überlassen. Freitagabend und Samstag bleibt die Ausstellung geschlossen. Zumindest manchmal schafft es der Rabbiner, der extra aus Budapest angereist kommt, die für einen Gottesdienst nötigen zehn jüdischen Männer aufzutreiben. Bis 1944 war Kosice ein Zentrum jüdischen Lebens in der Region. Von den rund 12.000 Kaschauer Juden, die die Nazis mit ungarischer und slowakischer Hilfe in die Konzentrationslager deportiert und ermordet haben, kamen nach 1945 gerade einmal 200 zurück. Heute zählt die Gemeinde nur noch ein paar Dutzend Mitglieder.
Die Stadt, sagt Sefcik, interessiere sich kaum für die Synagoge und für den Künstlerverein. Aus dem Etat der Kulturhauptstadt bekomme er zumindest für sechs Ausstellungen jeweils 1.000 Euro – wenig im Vergleich zu den 60.000, die die staatliche Galerie jedes Jahr erhalte.
Für 2013 bekommen Künstler aus verschiedenen Ländern Gastateliers in der zu Kulturräumen umgebauten ehemaligen Tabakfabrik. Das Geld, verspricht Kosices stellvertretende Bürgermeisterin Renata Lenártvá, „wird auf jeden Fall wieder hereinkommen.“ 2010 zählte die Stadt 260.000 Übernachtungen. Dieses Jahr sollen mindestens ein Viertel dazukommen.