Religion in Brasilien: Von Wundern und Besessenheit

Die afrobrasilianische Religion hat rund zwei Millionen Anhänger. Bei einer Candomblé-Feier fallen auch Touris in Trance. Und sie bietet obskure Einblicke.

Göttin des Candomblé in Bahia. Bild: gilles favier/vu/laif

SALVADOR taz | Die Fahrt geht in den Nordosten der Metropole, in den Stadtteil Cabula. Die Gegend ist ärmlich. Eines der vielen Elendsquartiere wuchert die Hänge empor. Hier befindet sich einer der bedeutendsten Candomblé-Tempel von Salvador. Seit 1910 gibt es das Ilé Axé Opó Afonjás, eine Kultstätte, die von einer Frau geleitet wird, der Gottmutter, Lalorixá genannt.

In diesem Tempel hat seit Jahrzehnten Maria Stella de Azevedo Santos, kurz Mae Stella, als Priesterin das Sagen. Sie ist eine Autorität in Salvador, hat Bücher verfasst über die afrobrasilianische Religion Candomblé mit ihren Gottheiten (Orixás), sie schreibt in der bahianischen Tageszeitung A Tarde, und sie hätte es gern, wenn sich ihre Religion, der in Brasilien immerhin fast zwei Millionen Gläubige anhängen, wieder traditioneller gibt, afrikanischer.

Zurück zu den Wurzeln, die in Benin und Nigeria liegen, das ist Mae Stellas Ansinnen. Sie möchte sogar, dass sich der Candomblé nicht mehr im Karneval zeigt und die sogenannten Afoxé-Blocos, die Trommelgruppen, sich aus dem Faschingstreiben zurückziehen.

Eine Forderung im Übrigen, die schon vor über 100 Jahren aus ganz anderen Gründen formuliert wurde. Damals war, so kolportierte es Salvadors großer Dichter Jorge Amado in seiner „Werkstatt der Wunder“, abschätzig von „Mummenschanz mit Rock und Turban“ die Rede, von „abscheulichem Samba, riesigem Krach ohne Ton und Klang, unvereinbar mit unserem Stand der Zivilisation“.

Das Werk des Teufels

Heute sind es vor allem Evangelikale, Pfingstkirchler, die im Candomblé das Werk des Teufels erkennen wollen und schon mal die Kultstätten der Konkurrenz stürmen.

Der Gottesdienst steigt an einem Donnerstag. Zu Ehren von Oxóssi wird ein seit Tagen vorbereitetes Fest gegeben. Oxóssi, Gott der Jagd, gilt als Ernährer der Familie und darüber hinaus als einzelgängerisch, klug und bescheiden. Im religiösen Synkretismus Brasiliens ist er dem Heiligen Georg zugeordnet; Jorge Amado hatte den Jagdgott übrigens als religiösen Stammvater.

Am Eingang des Tempelgeländes von Cabula steht ein drei Meter großer Oxóssi in üppigem Gewand, ausgestattet mit Pfeil und Bogen, den Insignien seiner Macht. Auf dem weitläufigen Gelände, zu dem ein großer Garten gehört, werden auch die Gottheiten Xangô (Feuer) und Oxum (Flussgott) verehrt. Etwas abseits trocknen Tieropfer in der salzigen Meerluft, Ziegenköpfe baumeln an einer Holzstange. Auch ein großes Christenkreuz findet man.

Die Gemeinde trägt Weiß an diesem Abend. Weiß liefert „die gute Energie“, heißt es. Die Frauen tragen Kopftücher, die sie wie Turbane gebunden haben, und voluminöse Röcke. Um ihren Hals baumeln Ketten.

Kleine Jagdgötter in Trance

Der Tempel, ein einfacher Flachbau, ist weiß-blau und mit Palmblättern geschmückt. Besucher des Gottesdienstes nehmen am Rand und im hinteren Bereich Platz, Frauen und Männer getrennt voneinander. Wenn die ersten Trommeln gerührt werden, betreten die Filhos de Santos den Raum, die Eingeweihten, die beim rituellen Tanz in einen tranceähnlichen Zustand verfallen, in dem sie ihren Körper dem Geist ihres Orixá zur Verfügung stellen. Sie werden an diesem Abend also zu kleinen Jagdgöttern, zu Oxóssis für eine kurze Zeit.

Ungefähr 40 Filhos, zumeist Frauen, bewegen sich rhythmisch im Kreis zum monotonen Stampfen der Trommeln. Mit großer Ernsthaftigkeit ziehen sie ihre Kreise, zuckeln umher, kritisch beäugt von der Priesterin Mae Stella, die wegen ihres Alters auf einem Sitz thront.

Nach etwa 90 Minuten wird der Gesang der sachte Tanzenden emphatischer, in Erwartung des göttlichen Bogenschützen tut sich etwas in der Gemeinde der bald schon Erleuchteten. Ein dicker Mann schert plötzlich aus dem bislang so wohlgeordneten Kreis aus, zuckt, schwankt, gockelt umher, verdreht die Augen, zeigt offensichtlich Symptome einer Besessenheit. Helfer binden ihm eine Art Wams um den Bauch, ein Tuch um die Stirn. Sein Torkeln wirkt wie eine Initialzündung auf die Gemeinde.

Tierische Schreie

Eine nach der anderen verfällt in diesen Zustand der Disbalance. Innerhalb von nur wenigen Minuten ist Oxóssi in gut zwei Dutzend der Filhos eingefahren und bemächtigt sich ihrer. Tierische Schreie werden ausgestoßen, manche werfen sie auf den Boden, um darauf ihren Nächsten liebevoll zu umarmen. So geht der kontrollierte Exzess noch eine Weile. Nach dem Fest wird die salvadorianische Candomblé-Expertin Erica Jane de Hohenstein sagen: „Ein schöner Abend mit viel Besessenheit.“

Die afrobrasilianischen Kulte, zu denen auch Umbanda und das Voodoo-ähnliche Macumba gehören, strahlen auch auf den bahianischen Fußball aus. Vereine beschäftigen gern einen Maes de Santo, einen Heiligenvater, der Gegner verhext oder die eigenen Spieler reinwäscht.

Einige von diesen Fußballzauberkünstlern sind, schreibt Martin Curi in seinem Buch „Brasilien, Land des Fußballs“, berühmt geworden: Vater Santana bei Vasco da Gama in Rio oder Vater Edu bei Náutico in Recife. Beim EC Bahia in Salvador spielte der Masseur Alemão lange die Rolle des Hexenmeisters. In seinem Angebot: rituelle Bäder für die Spieler. Und Besuche in Candomblé-Tempeln, den sogenannten Terreiros. Zum Beispiel bei Mae Stella in Cabula.

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