: Im Sog des Verbrechens
Seit sechzehn Jahren berichtet Gisela Friedrichsen für den „Spiegel“ aus den Gerichtssälen. Sie arbeitet mit kritischer Distanz. Und doch kommen ihr die Fälle manchmal näher, als ihr lieb ist: Wenn Staatsanwälte und Verteidiger eine makabere Show inszenieren, in der auch die Reporterin eine Rolle spielt
VON SUSANNE LANG
Dennis zum Beispiel: Plötzlich war er mitten im Gerichtsaal, wiederauferstanden – aus seiner Tiefkühltruhe. Der Gestank kroch auch in ihre Nase, aus einer Truhe, in der die Leiche des sechsjährigen Jungen Dennis gefunden wurde. „Das hat natürlich gestunken wie –,“ Gisela Friedrichsen rümpft ihre Nase und schüttelt den Kopf, während sie versucht, den Geruch in Worte zu fassen. „Na ja, das können Sie sich vorstellen!“
„Ich rieche den Fall“
Ja, das kann man. So wie sie von dem Vorfall im Gerichtssaal erzählt. Wie sie ohne große Nachfrage sofort auf die Tiefkühltruhe kommt, die während der Verhandlung im Saal geöffnet wurde. Die Gerichtsreporterin des Spiegels sitzt vor ihrem Schreibtisch. Hinter ihr flimmert der Bildschirm ihres Laptops. Der Cursor wartet inmitten eines längeren Absatzes. Die Truhe beschäftigt sie gerade mehr als die Hintergründe des Todes: Die Mutter und ihr Ehemann sollen den Jungen so stark vernachlässigt haben, dass er verhungerte. „Wenn ich an den Fall Dennis denke“, sagt Friedrichsen und lacht abrupt auf, „rieche ich ihn.“
Sie zupft ihren kurzen, taillierten Blazer zurecht, der etwas hochgerutscht ist, und schlägt die Beine übereinander. Sie trägt Stiefel, über einer engen schwarzen Hose. Traditionelle Kleidung, schick, gutbürgerlich. Wertebewusst. Genau so kennen sie mittlerweile auch Millionen Fernsehzuschauer, aus den zahlreichen Fernsehberichten, in denen sie den Kameras draußen vor den Sälen in kurzen Statements ihre Eindrücke vom Prozess schildert. Weil die nicht hineindürfen. Eine Minute dreißig, maximal. „Wenn ich an den Fall Dennis denke, rieche ich ihn“ ist einer dieser Sätze, die auch die Kameras lieben.
Im Spiegel legt sie Wert auf Differenzierung, das betont sie. Schreiben helfe, sagt sie, „sobald man über die Fälle schreiben kann, sind sie logisch fassbar und vermittelbar“. Der Geruch lässt sich schwer in Notizblättern festhalten, wie sie in losen Stapeln um ihren Schreibtisch herum liegen. Sogar eine kleine Trittleiter benutzt Friedrichsen als Ablage, auf jeder Stufe liegen Papierstapel: Akten, Berichte, Vermerke. Sie dreht sich kurz auf ihrem Schreibtischstuhl nach links, dann wieder zurück. Es fällt nicht nur im Fall von Dennis schwer, die Mitte zu halten. In all den unerwünschten Momenten, die – leider, wie sie findet – immer verlässlicher eintreten.
Jessica zum Beispiel. Als der Obduzent das ausgezehrte Skelett des qualvoll erstickten Mädchens, über das sich nur mehr papierdünne Haut spannt, übergroß auf eine Leinwand projizierte. „Wie Kino“, so wird es Friedrichsen in ihrem Spiegel-Bericht später versuchen in Worte zu fassen, „schrecklich!“ Momente, in denen auch Gisela Friedrichsen nicht mehr objektiv beobachten kann und Kategorien wie „grauenvoll“ einzieht. Inszenierte Momente, die Gefühle freisetzen – und freisetzen sollen. „Diese Emotionalisierung“, meint Friedrichsen und ihre Stimme wird lauter, „wenn das so weitergeht, haben wir amerikanische Verhältnisse!“
Auch wenn die Kameras keine Gerichtsverhandlung in Deutschland aufzeichnen dürfen, wie es in den USA möglich ist. Auch wenn Prozesse nicht als Live-Bühnen für öffentliche Inszenierungen dienen, weswegen sie in den USA zu regelrechten Shows stilisiert werden. In Deutschland spielt die Show im Anschluss. In den Talkrunden. In Boulevardmagazinen und -zeitungen. Auch Gisela Friedrichsen hat daran Anteil, obwohl sie es nicht gut findet.
Friedrichsen, die seit 16 Jahren für das Nachrichtenmagazin Der Spiegel berichtet. Die mit Lob überschüttet wird, am Anfang ihrer Karriere sogar mit „gefährlichem Lob“, wie sie es heute sieht, denn Lob mache bestechlich, verschönere den Eindruck von Anwälten ebenso wie von Kollegen oder Politikern. Die zugleich auf gut besuchten Lesungen Autogramme gibt, weil sie ihre spektakulärsten Fälle in einem Buch veröffentlicht hat. Die neben Generalsekretären wie Markus Söder (CSU) in der Talkshow von Johannes B. Kerner sitzt und sich nur schlecht gegen deren Einvernahme verwahren kann. Wenn Söder Jessica zum Anlass nimmt, ein hartes Durchgreifen des Staates zu fordern, und die Mutter zum Monster stilisiert. „Das war ohne Kenntnis und populistisch“, findet Friedrichsen, „klar, damit er am Stammtisch Beifall kriegt.“
Warum geht sie in diese Sendung?
„Ach“, setzt Friedrichsen an und seufzt, „warum gehe ich in diese Sendung?“ Die Wiederholung der Frage bringt Zeit. Um nachzudenken. „Eigentlich“, sagt sie dann, „mag ich das Fernsehen überhaupt nicht, weil es derart auf Schwarz-weiß-Aussagen reduziert.“ Sie dreht sich kurz in Richtung Fenster und wieder zurück. Dann kommt das „Aber“: „Ich habe gemerkt – und das hat mich sehr geschmerzt, dass man drei Sätze im Fernsehen sagt, und man wird von den Menschen wahrgenommen.“ Es sei völlig irrational. Aber diese Aufmerksamkeit, die wolle sie nutzen. Wozu? Um aufzuklären. Nicht nur über die Fälle, sondern auch über die Art und Weise, wie Gerichte zu ihren Urteilen finden. „Schauen Sie“, fügt sie nach einer längeren Pause hinzu, „was ich damit bewirke, kann ich auch nicht genau sagen.“ Das klingt nicht kokett. Sie reflektiert ihre Rolle, auch nach 16 Jahren noch.
Wie denken die Kollegen über die Fernsehauftritte?
Sie lächelt. „Nun ja, die sind erwünscht“, sagt sie. Sie kläre jeden Auftritt mit der Chefredaktion. Fernsehen habe in diesem Haus ja einen Stellenwert. Mehr will sie dazu nicht sagen.
Draußen, in der grauen Nebelluft, gegenüber der Spiegel-Zentrale versteckt sich eine Häuserzeile an der Brandstwiete. An den Oberflächen und Fassaden zeigt sich das Abgründige nie. Schon gar nicht an den gepflegten, hier in der Hamburger Hafenkulisse. Es sind die Menschen dahinter, die scheitern, sagt Friedrichsen. Um die gehe es ihr. Im Zimmer ist es dämmerdunkel, nur der Laptop leuchtet. Friedrichsen macht trotzdem kein Licht an. Als die Sekretärin klopft und die Zimmertüre öffnet, fällt warmes Licht nach innen. Ob sie Mittagessen in der Kantine zurückstellen lassen soll, will sie wissen. Gisela Friedrichsen lächelt, sie freut sich über die nette, fürsorgliche Geste. Zögert aber. Die Sekretärin zählt das Menü auf, Ente – zu mächtig. Salat mit Austernpilzen – nicht so aufregend. Eigentlich, sagt Friedrichsen dann, müsse sie nichts essen jetzt. Nur den Bratapfel mit Vanillesoße, den die Sekretärin auf einem Teller mitgebracht hat, stellt sie auf ihrem Schreibtisch ab.
Warum will sie über die Fälle berichten, die sie sich selbst aussucht, von denen ihr so oft schlecht wird?
„Die Einblicke“, sagt Friedrichsen, wiederum nach einer längeren Denkpause, Einblicke in Familien und Gesellschaftsmilieus, „die ich sonst nie sehen würde“. Die jede ganz automatisch aus dem Blick verlieren würde, die wie die gebürtige Münchnerin Friedrichsen Karriere gemacht hat, verheiratet ist und Mutter von zwei Kindern, die ein klassisches Mittelschichtsleben führt. Gerade deshalb findet sie ihre Einblicke wichtig, für alle, die nicht mehr hinschauen. Oder diejenigen, die menschliche Tragödien wie im Fall der grausam verhungerten Jessica zum Indiz für die Verwahrlosung unserer Gesellschaft aufbauschen.
„Überforderte Eltern hat es immer schon gegeben“, sagt Friedrichsen, „das liegt weder an Hartz IV noch an der hohen Arbeitslosigkeit.“ In Zeiten der Vollbeschäftigung sei nur weniger auf diese Randgruppen geschaut worden. Nein, es seien menschliche Tragödien, wie auch im Fall der Mutter von Jessica, die selbst als Kind vernachlässigt und missbraucht worden ist. „Natürlich ist das furchtbar, auch das Urteil ‚lebenslänglich‘“, aber genauso schlimm finde sie eigentlich das Verhalten der Gutachter: „Mein Gott, die sei halt faul und emotional dickfellig und stur – ja, so kann man das natürlich auch abtun“, empört sich Friedrichsen. „Nur weil Bindungsunfähigkeit und fehlender Mutterinstinkt auf keiner psychiatrischen Liste der Persönlichkeitsstörungen steht!“
Aufklärung mit Auflage
Zuletzt, als sich die Gerichtsreporterin über die Praxis von Gutachtern ärgerte, landete sie ihren bisher größten Erfolg. Bei den sogenannten Wormser Prozessen, in denen ein angeblicher Kindermissbrauch verhandelt wurde, stellte Friedrichsen die Gutachten in Frage, weil die Kinder suggestiv befragt worden seien. Zwar zog sie damit massive Kritik von FeministInnen auf sich. Der Bundesgerichtshof jedoch führte im Anschluss in einem Urteil Standards für Gutachten ein. „Da kommt es einem natürlich zugute, wenn man bei einem Magazin wie dem Spiegel arbeitet, mit hoher Auflage“, fügt sie hinzu.
Sie trägt den Erfolg nicht vor sich her, aber sie ist stolz. Nicht zuletzt, weil es diese Erfolge sind, die in bester Spiegel-Tradition der Gerichtsreportage stehen. Gerhard Mauz, ihr legendärer Vorgänger, holte Friedrichsen von der FAZ zum Spiegel. „Er fehlt mir sehr“, sagt sie unvermittelt. Über manche Dinge aus den Gerichtssälen kann man einfach nicht mit der Familie am Abendbrottisch reden. Manche Dinge kann man vielleicht nicht immer objektiv einschätzen. Manche Dinge sind so schrecklich, dass man wegrennen möchte. Nur einmal habe sie wirklich gekniffen, erzählt sie, nach beim Prozess über das Satanisten-Pärchen, als der Medienhype und die Vorführung und die Show der beiden sie nur noch anwiderten. „Über den Fall habe ich dann nicht geschrieben.“
Über die Tiefkühltruhe im Cottbusser Gerichtssaal wird sie schreiben. Nicht kneifen, sondern ebenjene Emotionalisierung thematisieren, die Verteidiger und andere Akteure vor Gericht gezielt einsetzen, um – ja, warum eigentlich? „Um auf eine Seite zu ziehen“, glaubt Friedrichsen, „Stimmung zu machen.“ Um Gefühle in ein Urteil einfließen zu lassen, die weder ein Gericht noch eine Gerichtsreporterin zulassen sollte. Die sich eine skandalierungssüchtige Öffentlichkeit jedoch wünscht. Und wenn es sein muss, wird sie das auch in die Kameras sagen. „Immerhin habe ich dort die Chance, etwas richtig zu stellen, auch wenn es nur in kurzen Statements ist“, sagt Friedrichsen. In der aktuellen Spiegel-Ausgabe von heute liest sich ihr Kommentar so: „Wird man demnächst das nachgestellte Gurgeln eines Opfers beim Erwürgtwerden zu hören bekommen oder das Stöhnen eines Vergewaltigers?“ Sie wird auf jeden Fall dagegen anschreiben.