Curitiba in Brasilien: Die grüne Hauptstadt Lateinamerikas

Ob arm oder reich, jeder soll in der Vorzeigestadt Curitiba gut leben. Die Müllkippe wurde zum botanischen Garten, Recycling wurde belohnt.

Der Glasspavillon ist besonders beliebt. Die Pavillons sind das Markenzeichen der Paraná-Hauptstadt. Bild: imago/Curitiba PR

Es gibt keinen Bossa nova, kein ausgelassenes Treiben auf den Straßen, keine schwülen Nächte mit heißen Rhythmen. Nein, Curitiba, die Millionenstadt im Süden Brasiliens, hat nichts vom leichten Leben, das man sich gewöhnlich bei Rio und der Copacabana vorstellt.

In der südlichen Metropole pflegt man lieber heitere Gelassenheit. Dabei ist der europäische Einfluss unverkennbar. Jedenfalls gilt Curitiba heute als „grüne Hauptstadt Lateinamerikas“ und der langjährige Bürgermeister Jaime Lerner als Gründungsvater der ökologischen Stadt. Man feierte ihn bereits als Erfinder nachhaltiger Stadtentwicklung, lange bevor europäische Architekten ernsthaft über die Klimaentwicklung nachdachten.

Lerners Arbeitsstätte in der ruhig-beschaulichen Rua Bom Jesus wird streng von einem Wärter überwacht. Auch das ist Curitiba. Mein Begleiter Raoni, ein Fotograf aus São Paulo, meinte, Lerner sei der unbrasilianischste Brasilianer, den er kennengelernt habe: „Du kannst jedem Brasilianer sagen, er solle lächeln, und er wird es sofort machen. Jaime Lerner zu fotografieren ist eine Qual. Der steht da und rührt sich nicht.“ Doch beim Thema nachhaltige Entwicklung ist er plötzlich in seinem Element. Er erzählt, wie das Erfolgsmodell Curitiba zustande kam: „Als ich mit 25 Jahren meinen ersten Architekturwettbewerb gewann, baute ich mit dem Preisgeld mein Wohnhaus. Als ich es entwarf, war das Wort ,Nachhaltigkeit' noch völlig unbekannt. Und dennoch erfüllt das Haus ökologische Anforderungen.“

Das ist also die Keimzelle, von der aus sich das Modell Curitiba ausbreitete. Der 74-jährige Lerner, dessen jüdische Eltern während des Kriegs ihre polnische Heimat verlassen mussten, könnte stolz auf sein Lebenswerk zurückblicken, auf die Millionenstadt, die er nach den gleichen ökologischen Gesichtspunkten gestaltete wie sein einstiges Wohnhaus. Auf das berühmte „Museu Oscar Niemeyer“ seien die Curitibaner zwar stolz, aber es ist die einzige Architektur-Ikone, die sich Curitiba leistet.

Oscar Niemeyer Museum: Es ist sicherlich Curitibas bekannteste Sehenswürdigkeit, auch wegen seiner Ausstellungshalle in Gestalt eines Auges. Angegliedert ist ein großer Flachbau mit einer bedeutenden Sammlung von Gegenwartskunst.

Der Botanische Garten: Interessant ist der "viktorianische" Glaspalast mit der Ausstellungshalle des Künstlers Frans Krajcberg. Der Pole gehörte zusammen mit (dem ermordeten) Chico Mendes zu den Gründungsfiguren der Umweltbewegung, die den Schutz des Urwalds im öffentlichen Bewusstsein verankern wollten. In der Dauerausstellung, die den programmatischen Titel „A Revolta“ trägt, zeigt der Künstler über hundert Werke, vornehmlich verbrannte Bäume, deren Brandmale die illegalen Rodungen in Erinnerung rufen.

Weitere Sehenswürdigkeiten: Die Drahtoper und die Freie Universität für Umweltforschung, die frisch restaurierte Passage „Rua 24 Horas“ und das Kulturzentrum Guaía mit einem Fassadenrelief des einheimischen Künstlers Poty Lazzarotto.

Infos: brasilien.tourismus.de/

Die Stadt ist keine Modenschau

Denn Jaime Lerner hat für seine Stadt andere Ziele: „Die Stadt ist keine Modenschau. Wie lange lässt sich wohl eine Stadt mit den Gebäuden von Stararchitekten herausputzen?“ Der „europäische“ Brasilianer warb frühzeitig für nachhaltige Ziele, die jedem zugutekommen: „Seitdem ich vor 40 Jahren zum ersten Mal Bürgermeister wurde, haben sich die Grünflächen aufs 300fache vergrößert, obwohl sich die Bevölkerung seither nur verdreifacht hat.“

In Curitiba wollte man niemals spektakuläre Hochhäuser, Bürobauten oder Shoppingmalls bauen lassen. Stattdessen folgte man dem einfachen Grundsatz, dass jene Stadt die bestmögliche ist, in der jeder, ob Arm oder Reich, gut leben kann. Das neue, grüne Curitiba entstand an den Stadträndern, dort, wo die in der Regenzeit anschwellenden Flüsse regelmäßig über die Ufer treten. Noch in den achtziger Jahren wurden die Politiker von den Kreditgebern gedrängt, die fünf Flüsse in unterirdische Tunnel zu verlegen. Der Architekt Oswaldo Alves meint: „Lerner setzte die Kredite anders ein, als es die Banken wollten. Ingenieure errichteten kleine Dämme, damit sich die Flüsse in der Regenzeit dort stauen können. Auf diese Weise entstanden kleine Seen, die das Zentrum der Parkanlagen bilden. Hin und wieder treten die Gewässer über die Ufer. Aber das ist ganz natürlich.“

Auf den Anhöhen Curitibas, mit Blick auf die Hochhaussilhouette der Millionenstadt, wurde ein Grüngürtel angelegt, der selbst nach europäischen Maßstäben außergewöhnlich ist: „Damals gab es Städte, die sich damit rühmten, 10.000 Bäume angepflanzt zu haben. Uns war das nicht genug. Deswegen ließen wir eine Million Bäume anpflanzen. Und in den Parks errichteten wir Pavillons aus einfachsten Materialien, die sich bestens in die Landschaft einfügen“, erinnert sich Jaime Lerner. Und er vergisst nicht, an die früheren Zeiten zu erinnern: „Wo sich heute ein Botanischer Garten ausbreitet, gab es früher eine stinkende Müllkippe.“

Glaspalast aus recycelten Metallröhren

Die Pavillons sind das Markenzeichen der Paraná-Hauptstadt. Auf sie sind die Curitibaner besonders stolz. Jaime Lerner ließ etliche Pavillons errichten, aber der Glaspalast ist bei den Curitibanern besonders beliebt. Jaime Lerner ließ ihn 1991 in wenigen Tagen aus recycelbaren Metallröhren, Drähten und Glas errichten. Wahrscheinlich ist er das weltweit einzige architektonische Wahrzeichen, das in so kurzer Zeit und mit so wenig Geld geschaffen wurde. Auch die Opera se Arame ließ der Exbürgermeister in den Rückstaugebieten des Grüngürtels bauen. Die Drahtoper trumpft nicht mit großer Geste auf, vielmehr wächst sie fast organisch aus einem bewaldeten Feuchtgebiet heraus. Der leicht und transparent wirkende Kuppelbau steht auf metallenen Stützen, die teilweise im Boden des gestauten Gewässers verankert sind. Die Oper mutet wie ein kleines Wasserschloss an, das sich mühsam gegen das umgebende Dickicht behauptet.

Wir setzen unsere Erkundungstour entlang des Grüngürtels fort und erreichen wenig später die Freie Universität für Umweltforschung, eine Art Volksuniversität, die den Bürger mit dem Umweltschutz vertraut machen will. An der Straße weist eine schmucklose Informationstafel auf die Forschungsstätte hin: Wir erfahren, dass 1992 ein Team des unabhängigen Planungsamts das Ökoinstitut errichtete. Wir laufen auf Holzplanken, die uns durch sumpfiges, dicht bewaldetes Gelände führen. Plötzlich lichtet sich das Dickicht, und vor unseren Augen breitet sich ein Teich aus, über dem sich ein ehemaliger Steinbruch erhebt. Die Akademie, die anfangs an Baumhäuser denken lässt, ist ein kleines Wunderwerk nachhaltiger Architektur: Es sind gestapelte Holzhäuser, die durch eine mächtige, hölzerne Konstruktion abgestützt und über einen spiralförmig ansteigenden Steg erreichbar sind.

Schulhefte und Gemüse für Müllsammler

Jaime Lerner wollte in den neunziger Jahren nicht nur Kultureinrichtungen und Naherholungsgebiete in Curitibas Grünzonen schaffen. Er dachte auch daran, die Lebensverhältnisse in der Innenstadt zu verbessern. Vor allem galt es, sich gegen eine Welle des Bevölkerungswachstums zu stemmen: In den letzten 60 Jahren schwoll die Zahl der Einwohner von 180.000 auf 1,8 Millionen an. Mein Begleiter Marcelo berichtet: „Noch heute gibt es viele Zuwanderer, die in die armen Außenbezirke strömen, behelfsmäßige Behausungen errichten und damit die Wasserreservoirs gefährden.“ Allerdings setzte die Stadtverwaltung eine erfolgreiche Methode der Mülltrennung durch, die später von anderen Städten aufgegriffen wurde. Die Aktion heißt „Müll, der kein Müll ist“, und motiviert die Favela-Bewohner, den verwertbaren Abfall in ihren Siedlungen einzusammeln, an poppig angemalte Müllwagen abzuliefern, um schließlich als Gegenleistung Busfahrscheine, Schulhefte, Obst oder Gemüse zu erhalten. Dieses System hat die Stadt davor bewahrt, große Summen in die Reinhaltung der Kanalisation stecken zu müssen.

Die City besitzt eine außergewöhnliche Ladengalerie, die Tag und Nacht geöffnet hat. Die überdachte Galerie „24-Stunden-Straße“, die 24 Geschäfte und Cafés beherbergt, wurde kürzlich nach vierjähriger Restaurierung wiedereröffnet. Jetzt strahlen die weiß lackierten Metallröhren, und durch das verglaste Gewölbe strömt Sonnenlicht.

Aber Curitiba wurde auch Opfer des eigenen Erfolgs. Heute weiß Jaime Lerner, dass das Statussymbol Auto nicht zu vertreiben ist. Und dass Curitiba mittlerweile die höchste Verkehrsdichte aller brasilianischen Städte aufweist. Viele ignorieren die Vorzüge des ausgeklügelten Busnetzes und steigen lieber aufs private Auto um. Marcelo berichtet, dass es den Politikern immer schwerer falle, den neuen Mittelstand von Ökostandards zu überzeugen. Denn die Strategien erwiesen sich oft als blauäugig: „Man sagte den Leuten einfach: ,Behaltet euer Auto, stellt es aber in die Garage und benutzt es nur am Wochenende!' Schließlich wunderte man sich, dass das nicht klappte.“

Einwandererstadt mit guten Startbedingungen

Doch während noch heute in Rio und in São Paulo die Polizei ausrückt, um die Drogenkriminalität auf der Straße zu bekämpfen, könne man, meint Lerner, in Curitiba vor Gewaltübergriffen so gut wie sicher sein. Selbst im fernen Brasilia habe man erkannt, dass die südbrasilianische Einwandererstadt die besseren Startbedingungen bietet.

Das mäzenatische Engagement vor allem deutscher Einwanderer sei prägend gewesen, fügt Jaime Lerner hinzu. Noch heute ist die Bereitschaft, sich für die Belange der Stadt einzusetzen, spürbar. Die Curitibaner sind unbedingt überzeugt, in der europäischsten aller Städte Brasiliens zu leben

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.