ASMR-Phänomen: Das große Kribbeln im Kopf

Ein wohliges Kribbeln am ganzen Körper, wenn Papier knistert? Leute mit dem ASMR-Syndrom kennen das. Das Phänomen ist weit verbreitet.

Und, kribbelt es schon? Screenshot: www.youtube.com/watch?v=9LnZrptwj6Q

Zu sehen sind zwei Frauen. Eine mit langen künstlichen Fingernägeln in grellem Pink. Eine andere mit dickem blondem Zopf, der geflochten über ihrer Schulter liegt. Die Fingernägel-Frau streichelt der Zopf-Frau über den Rücken, die Finger gleiten über den Strickstoff der Jacke.

Langsam wandern sie von rechts nach links, verschwinden zwischendurch im unteren Bildrand. Dann öffnen die Finger mit den pinken Nägeln den blonden Zopf, zerteilen ihn sorgfältig in einzelne Strähnen, fahren hindurch. Schließlich bürsten sie geduldig 18 Minuten lang die blonden Haare.

Das Video der Schwestern, die einander die Haare bürsten, wurde bei YouTube mehr als 260.000 Mal geklickt. Es zählt zu den beliebtesten Aufnahmen in der ASMR-Community.

ASMR ist ein Phänomen, von dem niemand wirklich weiß, ob es existiert, Ärzte nicht, und auch nicht Psychologen. Ebenso wenig Wissenschaftler. Die Einzigen, die daran keinen Zweifel haben, sind die ASMRtists selbst. So nennen sich die Menschen mit diesem speziellen Gefühl. Im Netz schreiben sie, dass bestimmte Geräusche, die sie hören, oder bestimmte Dinge, die sie betrachten, bei ihnen ein angenehmes Kribbeln im Kopf oder eine Gänsehaut auslösen. Sie nennen das Phänomen Autonomous Sensory Meridian Response, kurz ASMR. In Deutschland sind laut Homepage Hunderte von diesem Gefühl betroffen, weltweit dürften es mehrere Tausend sein.

ASMR-Test mit Videos

Auf der deutschen ASMR-Internetseite kann jeder mithilfe von zwei Videos zunächst testen, ob er ASMR hat. Auf dem ersten sitzt eine Frau im Schneidersitz auf dem Boden, die Beine sind nackt, die Fingernägel künstlich. Ihr Freund sei von einem Trip aus Asien zurückgekommen und habe landestypische Leckereien mitgebracht, flüstert sie auf Englisch. Geduldig präsentiert sie verschiedene japanische Süßigkeiten. Sie knistert mit dem Papier der Verpackungen, spricht mit sanfter, leiser Stimme, die mehr an die eines Mädchens als an die einer erwachsenen Frau erinnert. Das geht fast eine halbe Stunde so.

Die Süßigkeiten unterscheiden sich kaum voneinander, alle sehen verboten künstlich und süß aus. Aber darum geht es nicht. Der Trigger, wie die Geräusche im ASMR-Kult genannt werden, ist für manche das Knistern mit der Verpackung, für andere das sanfte Flüstern, für dritte die Kombination aus beidem. „Japanese Candy Soft Speaking“ heißt das Video, das bei zahllosen Betrachtern angenehme Gefühle freisetzt.

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„So was ist genau mein Ding“, sagt Donna, 26, und ASMRtist. Schon als Kind stand sie auf das Knistern von Papier, konnte diese Empfindung aber nicht zuordnen. Auf YouTube hat sie sich zunächst Unboxing-Videos angesehen. Das sind Filme, auf denen jemand beispielsweise einen Computer auspackt. „Das hat mich fasziniert. Doch ich wusste nicht, was es ist.“

In die Fetisch-Schublade

So geht es wohl den meisten ASMRtists. Im Internet schreiben sie, wie froh sie sind, endlich Gleichgesinnte und einen Namen für die Empfindung gefunden zu haben. Die meisten sind zwischen 16 und 29 Jahre alt und leben mit ASMR häufig bereits seit ihrer Kindheit. „Von vielen habe ich gehört, dass sich das Gefühl beim Gute-Nacht-Geschichten-Vorlesen zum ersten Mal eingeschlichen hat“, sagt Donna.

Aber die Betroffenen halten sich für eine Ausnahme und erzählen nicht davon. Heute kann sich Donna mit Verbündeten in Foren austauschen, anderen Videos empfehlen, selbst Tipps bekommen. Noch vor wenigen Jahren hatte sie keine Ahnung, was das Papiergeknister da mit ihr macht. „Man posaunt das nicht herum. Menschen, die kein ASMR haben, können es oft nicht nachvollziehen und bezeichnen es als Schwachsinn“.

Andere stecken das Phänomen in die Fetisch-Schublade. Tatsächlich dürfte es manch einem gefallen, wenn Frauen einander zärtlich über Rücken und Haare streicheln oder Haarbürsten mit eindeutiger Form liebkosen. In einem anderen Video öffnen Frauenhände geduldig ein Überraschungsei. Zunächst wickeln sie das Papier ab, dann drehen sie das Ei ein wenig im Kreis, umfassen es. Das mutet dann schon eher anstößig als entspannend an.

Doch der Begriff Gehirnorgasmus, der für sexuelle Fantasien und die Stimulation von Bedürfnissen spricht, ist in der Szene äußerst unbeliebt. „Natürlich wird ASMR von einigen sexualisiert, und sicherlich gucken sich manche die Videos genau aus diesem Grund an“, sagt Donna. Es gebe sogar ASMR-Porno-Videos. „Aber wenn es jemandem um Befriedigung geht, bietet das Internet eine viel größere und bessere Auswahl als in der ASMR-Welt“, sagt Donna.

Dass jemand anzüglich frage, ob ich nicht auch mal meine Füße zeigen könnte, ist eine absolute Seltenheit. Dagegen, dass ASMR etwas mit Sex zu tun hat, sprechen auch die besonders abstrusen Videos. Eines zeigt jemanden, der in einer Tonne voller Waschpulver buddelt, ein anderes einen Fön, der zehn Minuten lang ein Handtuch trocken pustet.

Einige ASMR-Aufnahmen entspannen die Betrachter, andere stimulieren offenbar die entscheidenden Synapsen im Gehirn. „Bei mir funktioniert nicht jedes Video“, sagt Donna. Auch nicht jedes Knistergeräusch. ASMR sei ein sehr individuelles Phänomen, das sich bei jedem anders äußern kann. Manchmal nur marginal, manchmal ganz grundsätzlich. Rollenspielvideos etwa, auf denen eine Zahnreinigung oder den Besuch im Schönheits-Salon simuliert wird, lassen Donna völlig kalt. „Theoretisch kann nahezu alles ASMR sein, solange irgendein Betrachter dabei diese Empfindungen hat.“

Regeln gebe es nicht. So etwas wie eine Richtlinie sei aber, dass man nicht zu grob sein dürfe. „Bei einem Schachspielvideo sollten die Figuren nicht zu laut bewegt werden. Auf keinem ASMR-Film sollte das Fenster offen oder überhaupt andere Geräusche als der jeweilige Trigger zu hören sein.“

Für Donna gehört ASMR zum Leben, sie guckt die Videos je nach Lust und Zeit mehrmals in der Woche. Auch deshalb hofft sie, dass ASMR bald wissenschaftlich untersucht wird. „Es ist einfacher, sich darüber lustig zu machen, als nach der Ursache zu fragen“, sagt sie: „Wir möchten ernst genommen werden und uns nicht rechtfertigen müssen.“

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