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Archiv-Artikel

Arme leiden über Gebühr

Im Jahr zwei nach Einführung der Praxisgebühr nimmt die Zahl der Arztbesuche wieder langsam zu. Dies gilt allerdings nicht für sozial schwache Bezirke wie Neukölln und Friedrichshain-Kreuzberg

von ANNETTE LEYSSNER

Die Praxisgebühr zeigt Wirkung: Immer weniger Menschen gehen zum Arzt. Das belegen Zahlen der Kassenärztlichen Vereinigung Berlin (KVB). Die Praxisbesuche haben seit Einführung der 10 Euro teuren Gebühr vor knapp zwei Jahren um durchschnittlich 9,5 Prozent abgenommen, sagte Annette Kurth, die Sprecherin KVB. Besonders treffen diese Zusatzkosten allerdings arme Menschen: Laut der KVB verzichten sie weiterhin mehr als andere auf oft notwendige Arztbesuche. Die Praxisgebühr war Anfang 2004 bundesweit eingeführt worden. Bezahlt werden muss jeweils für den ersten Arztbesuch pro Quartal.

Nach dem starken Rückgang der Arztbesuche im Jahr 2004 sind in Berlin im ersten Quartal 2005 zwar wieder mehr Menschen zum Arzt gegangen als im Vergleichszeitraum 2004. Die KVB spricht von einem Zuwachs von 1,5 Prozent. Allerdings gelte dies nicht für sozial schwache Bezirke wie Neukölln und Friedrichshain-Kreuzberg. Dort ging die Zahl der Arztbesuche noch einmal leicht um 0,1 beziehungsweise 0,2 Prozent zurück. Bereits im Jahr 2004 war sie dort überdurchschnittlich stark eingebrochen.

Sinn der finanziellen Eigenbeteiligung war es eigentlich, Patienten davon abzuhalten, jedes Wehwehchen einem Mediziner vorzuführen. Krankenkassen sollten entlastet und die Beiträge so gesenkt werden. Ganz spricht Annette Kurth der Praxisgebühr diese beabsichtigte Wirkung nicht ab. Ärzte aus „sozialen Brennpunkten“ hätten aber gemeldet, dass sie seit Einführung der Praxisgebühr zunehmend Patienten behandeln, die vom medizinischen Standpunkt her „besser früher gekommen wären“.

Die Auswirkungen der Gebühr bekommt fast jeder Arzt einzeln zu spüren: In einer Praxis durchschnittlicher Größe seien im dritten Quartal 2005 nur noch etwa 1.200 Patienten behandelt worden, sagt Kurth. Das sind etwa 200 weniger als vor der Einführung der Praxisgebühr. Immerhin sei die Zahlungsmoral für die 10 Euro sehr gut: Lediglich 0,6 Prozent der Patienten würden nicht zahlen. Problematisch hingegen sei das Geldeinsammeln bei der ambulanten Behandlung in der Notaufnahme von Krankenhäusern. Dort würde die Gebühr von 35 Prozent der Patienten nicht gezahlt.

Auch dem Büro der Patientenbeauftragten des Senats hat das Thema Praxisgebühr viele Anrufe beschert. Einige Menschen hätten sich über Ärzte beschwert, die eine Behandlung abgelehnt hatten, weil der Patient die 10 Euro nicht dabeihatte. „Persönlich finde ich es inhuman, jemanden wegzuschicken“, sagte Katrin Markau, Mitarbeiterin der Patientenbeauftragten des Senats. Der Arzt sei aber im Recht: Zur Behandlung ist er laut Markau lediglich in Notfällen verpflichtet. „Wir können dem Anrufer nur raten, bei akuten Schmerzen in die Notaufnahme zu gehen.“

Mehr als die 10 Euro Praxisgebühr würde die Menschen die Kosten von Medikamenten beschäftigen. Gleichzeitig mit der Praxisgebühr eingeführt fielen einige Medikamente aus dem Verschreibungskatalog der Ärzte heraus, für andere wurden höhere Zuzahlungen fällig. „Wir hatten schon Anrufe, wo jemand sagte: ‚Ich weiß nicht, ob ich die Medikamente kaufen soll oder das Abendbrot‘ “, sagt Markau. Medikamente, die der Kranke nun vollständig bezahlen muss, reichen von Schmerztabletten über Nasentropfen bis zu Salben für Hautkrankheiten. Bei chronisch Kranken könnten so leicht 90 Euro im Monat zusammenkommen, „und das geht dann schon an die Existenzgrenze“, sagt Markau.