Unglücklicher Männerschwarm

SEXUALITÄT UND AGITPROP Anlässlich des 60. Geburtstags von Rio Reiser widmet das Schwule Museum dem ehemaligen Sänger der Ton Steine Scherben die Kabinettausstellung „Allein unter Heteros“

Die linksmoralische Abstrahierung der Sexualität findet sich noch in den Liebesliedern der Scherben

VON DETLEF KUHLBRODT

Mit seiner Agitprop-Band Ton Steine Scherben hatte er den Soundtrack zu den linksradikalen Aktivitäten der 70er und der Häuserbesetzungsszene der frühen 80er geliefert, als Solosänger war er mit „König von Deutschland“ oder „Junimond“ über die Szene hinaus berühmt geworden. Am 9. Januar wäre Rio Reiser 60 geworden. Dies nahm das Schwule Museum zum Anlass, dem 1996 verstorbenen Sänger und Schauspieler eine kleine, „Allein unter Heteros“ betitelte Ausstellung zu widmen.

Obwohl sich Rio früh in seinem Umfeld geoutet hat, wurde seine Homosexualität selten thematisiert. Am „schwulen Leben“ habe er sich nicht beteiligt, schreibt Ulrich Dörrie, Kurator der Ausstellung. Der erste Ausflug in schwule Welten fand erst 1977/78 statt, als die Scherben zusammen mit der Hamburger Theatergruppe Brühwarm, bei der auch der spätere St-Pauli-Präsident Corny Lippmann beteiligt war, das Doppelalbum „Männerschwarm“ produzierten.

Polaroids und Kopien

In dem kaum 12 Quadratmeter großen Kabinett finden sich diverse Dokumente aus Reisers Leben: Die Eingangswand ist gepflastert mit Zeitungsartikeln und Interviews; von der Decke hängt Reisers Gitarre; es gibt Plattencover, großformatige Künstlerporträts in Schwarzweiß, tolle, Glamrock-mäßige Fotos von Rio mit Corny Lippmann, 42 von ihm fotografierte Polaroids vor allem mit schlafenden Liebhabern, die so leicht Nan-Goldin-mäßig wirken, Kopien von Tagebuchseiten und sein Bühnenoutift, das hoch hängt, damit man daran nicht riechen kann. Dazu läuft eine schlagerhafte CD des Sängers aus den 80ern mit seinen Solohits. Seltsam, sich eine Weile ganz allein diese Ausstellung anzuschauen, zurückzudenken an die eigenen Teenagerzeiten, als man die Scherben toll fand, und an die Demos in den 80ern, wo einen die immergleichen Songs nur noch genervt hatten.

Man kann lange Zeit damit verbringen, die sehr gut zusammengestellten Texte zu lesen. Über 1968 schreibt der kaum 20-Jährige: „Ich ging nicht zum SDS oder so ’ner Vereinigung. Ich hatte Angst, von ihrem Text und ihrer Selbstsicherheit überrollt zu werden.“ In dieser Text-Selbstsicherheit hatte sich Reiser mit den ersten Scherbenplatten aber auch selbst gefangen. Verglichen mit den gendergemäßen Veruneindeutlichungen des Glam-Rock-Mainstream der 70er-Jahre wirkten die Scherben recht bieder, und es ist kaum vorstellbar, dass Reiser den einfachen politischen Botschaften seiner Texte – Dir geht’s schlecht, weil wir in einer Welt leben, in der der Mensch über den Menschen regiert - geglaubt hat. Er litt an anderem und auch daran, dass das linksradikale Kostüm, in das er sich gezwängt hatte, nicht mit seinem schwulen Begehren zusammenpassen wollte.

„Sexualität wurde in der Linken ausgeklammert“, bei den Anarchos galt Schwulsein als dekadent, schreibt Reisers Biograf Hollow Skai. Rios lange Haare hätten bei linken Studenten Anstoß erregt, weil sie deren „latente Homosexualität weckten“. Die linke Toleranz von Homosexualität war oberflächlich; im Besonderen sollte jeder allein mit sich klarkommen. Die linksmoralische Abstrahierung der Sexualität findet sich noch in den Liebesliedern der Scherben, wo es in einer absurd anmutenden politischen Korrektheit heißt: „Ich lieg nicht unter dir, ich lieg nicht über dir, ich liege neben diiiiiiir.“

Die privaten Texte, in denen er von seinem Schwulsein spricht, wirken recht keusch, wenn er sich etwa 1974 wünscht, den Schwanz des Geliebten zu berühren, wenn er ein schlechtes Gewissen hat, „weil ich wusste, dass es weibisch war, und ich wusste, dass die meisten Leute es hassten.“ Ein weiteres Tabu der linken Geschichtsschreibung wird in der Ausstellung nur angedeutet: Wie viele aus der Szene hatte Rio nicht nur zum Spaß getrunken oder ein Pfeifchen geraucht. Glücklich sei Rio Reiser nicht gewesen, sagt Ulrich Dörrie.

■ Schwules Museum, bis 8. März