: Kein Zuckerschlecken
Jolanta Kropidlowski testet Marzipanmasse. Sie kennt sich mit Blausäure und Hefepilzen aus. Und muss schon morgens 250 Gramm Marzipan essen
VON ULRICH SCHULTE
Ein Zuckerschlecken ist das nicht. Um kurz vor acht zieht Jolanta Kropidlowski, 43, den weißen Kittel an, auf dem in schokoladenbraunen Buchstaben ihr Name steht. Sie stülpt eine grüne Papierhaube über ihr blondes Haar, geht die paar Schritte zu der Stahltür mit Sicherheitsglas-Fenster, drückt sie auf und nimmt drinnen, im Sensorik-Raum, ein Messer aus der Plastikschale. Die schmale Frau wird jetzt, am frühen Morgen, 250 Gramm Marzipan essen. So viel wiegt ein handelsübliches Päckchen Butter. Manchmal isst sie auch 300 Gramm.
Jolanta Kropidlowski leidet nicht etwa an einer Essstörung, im Gegenteil. Bewusster, als sie es tut, kann man Süßes kaum essen, der exzessive Konsum ist Teil ihrer Arbeit. Die schmale Frau leitet das Labor der ältesten Marzipanmassenfabrik Berlins, zweimal in der Woche verkostet sie Produktionsproben. Sie ist eine der eigens geschulten MarzipantesterInnen der Fabrik.
Mit wonnigem Schwelgen hat das nichts zu tun. Der Sensorikraum sieht so aus, wie die Bezeichnung klingt. An der Decke verbreiten drei Neonröhren ein fahles Licht, ringsum stehen Metallregale auf dem grauen Linoleum, in der Mitte sind drei Rolltische aneinander gestellt. Und da liegen sie, in der Mitte aufgebahrt wie auf OP-Tischen: riesige Blöcke aus Marzipanrohmasse, wohl eineinhalb Meter lang, von denen je eine telefonbuchdicke Scheibe abgesäbelt ist.
Die glatten Schnittflächen leuchten cremeweiß oder lindgrün, sie verströmen einen Duft nach Mandeln und Rosen zwischen den kühl gekachelten Wänden. Nugatstreifen in Braun- und Beigetönen liegen daneben, dazu Präparate, so sagen sie hier, das sind Haselnüsse und Mandeln in allen Formen: blanchiert, geröstet, gehobelt, gerieben. Die Baustoffe des Schlaraffenlandes sind hier versammelt.
Die Tester sind zu viert. „Die Menschen sind jetzt Messinstrumente“, sagt Jolanta Kropidlowski. „Unsere Testpersonen brauchen viel Ruhe, eine große Konzentration und Verantwortungsgefühl.“ Jetzt beginnt eine stumme Prozession um die Proben, nur aus einem Schaltschrank dringt ein leises Surren. Die zierliche Dame vom Qualitätsmanagement formt ein bisschen Modelliermarzipan zu einer Schlange, probiert, schnalzt leise und zieht die Wangen nach innen. Kropidlowski steckt Bröckchen Pistazienmarzipan in den Mund, auf ihrer Stirn bildet sich eine kleine Falte.
Mit kleinen, präzisen Buchstaben notiert sie auf dem Prüfzettel für die „Marzipanrohmasse mit Pistazien traditionell verwalzt“ eine Zwei beim Aussehen. Das Produkt ist in Ordnung, bedeutet das. „Wenn Sie genau hinschauen, sehen Sie ganz feine Streifen. Das sind Feuchtigkeitsunterschiede“, sagt sie. Dass die lindgrüne, cremige Masse sanft auf der Zunge schmilzt und herrlich nussig schmeckt, interessiert sie nicht. Die Testerin muss mit Noten zwischen Eins und Vier bewerten, wie stark die Masse von der Vorgabe abweicht. Kropidlowski leiht ihre Sinne den Kunden der Fabrik.
Im Schnitt stellt die Fabrik jeden Tag 50 Tonnen her, mal mehr, mal weniger. Zum Vergleich: Mit der Menge ließen sich 7 Elefantenbullen naturgetreu in Marzipan nachbilden. 100 Menschen arbeiten in dem Neuköllner Familienbetrieb Georg Lemke & Co. Es lief gut in letzter Zeit. In den vergangenen drei Jahren hat die Produktion um 30 Prozent zugelegt, sie schieben vier Schichten rund um die Uhr, sieben Tage die Woche.
Jolanta Kropidlowski und ihre Kollegen sind die letzte Instanz. Erst mit ihrer Erlaubnis wird Palette für Palette im System freigegeben, dann in Laster verladen und hinausgefahren. Die tägliche halbe Stunde Marzipantest kann deshalb auch stressig werden. Draußen steht der Lastwagen mit laufendem Motor, drinnen hat ein Kollege die Probe mit einer Vier, also als „nicht tauglich“, bewertet. Der Rest sieht das anders. Dann diskutieren die vier heftig. Auch die industrielle Süßwarenproduktion kann für die Menschen bitter sein, der Druck des Marktes ist immer da. Ein Kilo Rohmasse kostet im Großverkauf 50 Cent, die Ladung hat 20 Tonnen, macht 10.000 Euro. Kropidlowski und ihre Kollegen entscheiden, ob die Fabrik viel Geld verliert.
Sie schicken die Paletten oft auf weite Reisen. Die Mandelsplitter zum Beispiel landen auf Magnum-Eis, das weltweit verkauft wird. Die Geschmäcker sind verschieden, auch bei Marzipan. Die Norddeutschen bevorzugen Rohmasse der Kategorie MI mit 12 Prozent Bittermandel-Anteil, sie schmeckt kräftiger. Im Süden essen sie lieber mildes MO. „Das ist wie beim Bier. Ein Jever schmeckt auch herber als ein Weißbier“, sagt Martin Busch.
Der Mann mit der brummigen Stimme und dem grauen Bart füllt seinen Kittel gut aus, er ist Leiter der Produktentwicklung. Wie jeder der TesterInnen hat er Stärken und Schwächen. Busch schmeckt Süß besonders gut, Kropidlowski Bitter und Sauer. Wenn er bei Persipan unsicher ist, das aus kräftig-aromatischen Aprikosenkernen hergestellt wird, ruft er sie zur Hilfe.
Wissenschaftler sind die meisten. Kropidlowski hat ihr Diplom in Lebensmitteltechnologie gemacht. In der Abschlussarbeit untersuchte sie, wie sich Ölsamen wie Haselnüsse und Mandeln am besten lagern lassen, es ging um Fettkennzahlen, Vakuumverpackungen und Qualitätssicherung. „Sehr analytisch eben“, sagt sie. Fürs Porträtfoto setzt Kropidlowski die rundliche Metallbrille ab, „meine Lehrerinnen-Brille“, sie redet aktzentuiert, exakt, der polnische Akzent verstärkt den Eindruck noch.
„Wir arbeiten mit drei Grundrohstoffen, das sind Haselnüsse oder Mandeln, Zucker und Wasser. Aus den Komponenten stellen wir eine sehr große Vielfalt her. Diese Komposition bleibt immer interessant.“ Sie hat sich Notizen vor dem Gespräch gemacht, damit sie nichts vergisst. Sie wird am Schluss in die Kitteltasche greifen und drei karierte DIN-A 4-Blätter auf den Tisch legen. Sie sind auf beiden Seiten beschrieben. Nichts zu vergessen ist ihr Job.
Kropidlowski ist wichtig, worum es hier geht: nicht um persönlichen Geschmack, um Vorlieben, es geht darum, die Vorgaben des Kunden genau zu treffen, Fuhre für Fuhre. Sie springt von dem roten Sitzball hinter ihrem Schreibtisch im Büro auf und holt einen Ordner aus dem Schrank. Er versammelt alle Geheimnisse der Fabrik. Für jede Marzipan- oder Nugatmasse ist ein Blatt in einer Klarsichthülle abgeheftet, darauf stehen alle Eigenschaften der Sorte.
Allein 121 Marzipanrohmassen-Sorten sind es, die Masse O zum Beispiel muss eine typische Mandelnote haben, sie darf weder bitter noch muffig schmecken, sie muss frisch und rein duften, die Farbe muss zwischen Hellgelb und Beige changieren. So viel versteht der Laie noch. Kropidlowski kann noch viel mehr über Hobelstärke, Siebanalyse und Blausäuregehalt erzählen, selbst die Zahl der Keime trägt sie nach der Analyse im mikrobiologischen Labor auf dem Papierblatt für die Rohmasse O ein (maximal 5.000 koloniebildende Einheiten pro Gramm). Jedes Blatt Papier birgt den Charakter eines Marzipans.
Im Testraum schiebt Kropidlowski eine Scheibe Nugat zurecht. Die champagnerfarbenen und kakaobraunen Schichten schmiegen sich eng aneinander. Den feinen Riss, vielleicht einen halben Millimeter breit, hat Kropidlowski aus zwei Meter Entfernung gesehen. „Wir haben es nicht richtig präpariert, es kommt direkt aus dem Kühlschrank.“ Alles soll perfekt sein.
Martin Busch rollt Rohmasse in den Händen, auf der Haut bleibt ein feiner Ölfilm kleben. Speckig nennt das der Fachmann. Busch quetscht jetzt Pistazienmarzipan. Hinterher ist seine Hand nass von Öl. Für die Kunden des Neuköllner Unternehmens sind solche Produkteigenschaften fast wichtiger als kleine Geschmacksabweichungen. Modernes Marzipan muss fabriktauglich sein, es muss geschmeidig über Fließbänder laufen, sich gut von Walzen lösen.
Ohne Leidenschaft für Süßes lässt sich die Arbeit nicht machen, Asketen wären fehl am Platze. Produktentwickler Busch testete 25 Jahre, vor kurzem hat er aufgehört. Sein Hausarzt riet ihm ab. Ein anderer Tester schnitt sich früher nach der Produktprüfung von drei Blöcken daumendicke Scheiben ab, für ein Marzipan-Nugat-Marzipan-Sandwich. Bei der Frage, ob sie zu Hause Süßigkeiten noch sehen kann, muss Jolanta Kropidlowski lachen und sagt einen wissenschaftlichen Satz: „Ich habe eine sehr, sehr positive Einstellung zu Süßigkeiten.“