: Wenn der Elternwille gegen das Recht der Kinder gestellt wird
KINDER MIT HANDIKAPS Kultusminister wollen Sonderschulen retten – per Elternwahlrecht. UN-Konvention gibt Kindern aber Recht auf allgemeine Schule
■ 2007 hat Deutschland die UN-Konvention über die Rechte behinderter Menschen unterzeichnet. Artikel 24 sieht ein „integratives Schulsystem“ vor. „Die Vertragsstaaten anerkennen das Recht von Menschen mit Behinderungen auf Bildung. Um dieses Recht ohne Diskriminierung und auf der Grundlage der Chancengleichheit zu verwirklichen, gewährleisten die Vertragsstaaten ein inklusives Bildungssystem auf allen Ebenen und lebenslanges Lernen“. Die Staaten stellen sicher, dass „Menschen mit Behinderungen (…) Zugang zu einem inklusiven, hochwertigen und unentgeltlichen Unterricht an Grundschulen und weiterführenden Schulen haben.“
■ Bei dem Kongress „Schule für alle“ wird von 12. bis 14. März 2010 das Thema UN-Konvention und inklusive Schule ausführlich diskutiert. Der Kongress findet an der Uni Köln statt. www.eine-schule-fuer-alle.info
VON BRIGITTE SCHUMANN
Seit vielen Jahren fordern Eltern von Kindern mit Handikaps das Recht, über den Lernort ihrer Kinder selbst zu entscheiden – vergeblich. Die UN-Konvention hat nun Bewegung gebracht. Jetzt sind selbst konservative Schulminister wie Nordrhein-Westfalens Barbara Sommer (CDU) bereit, nachzudenken: „Wir müssen grundsätzlich dazu kommen, ein Elternrecht auf Wahl des Förderortes für ihr Kind zu etablieren – entweder eine Förderschule oder eine allgemeine Schule in zumutbarer Entfernung. Wir stehen vor einem Paradigmenwechsel.“
Solche Ankündigungen erfolgen just zu einem Zeitpunkt, da es nach Meinung von Juristen längst um etwas ganz anderes geht. Nicht mehr das Wahlrecht der Eltern steht im Mittelpunkt – sondern das Recht des einzelnen Kindes, in der allgemeinbildenden Schule gemeinsam mit Kindern ohne Behinderung lernen zu können. Viele Experten leiten aus der UN-Behindertenrechtskonvention ab, dass die Bundesländer verpflichtet sind, schrittweise ein inklusives Bildungssystem zu entwickeln. Die Konvention begründe aber zusätzlich ein subjektives Recht auf gemeinsames Lernen – das unmittelbar gilt und gerichtlich einklagbar ist (siehe oben). Das hängt damit zusammen, dass der Ausschluss aus dem allgemeinen Schulsystem aufgrund von Behinderung eine Diskriminierung darstellt.
Davon ist die Konferenz der Kultusminister (KMK) weit entfernt. Die Juristen in der KMK kommen in ihrem Gutachten zu der Feststellung, dass Artikel 24 der UN-Behindertenrechtskommission gar keine unmittelbaren subjektiven Rechtsansprüche begründet. Die Länder hätten demnach relativ große Gestaltungsspielräume bei der Umsetzung ihrer sogenannten Staatenverpflichtung.
Die UN-Konvention kann nach ihrer Ratifizierung aber auch nicht mehr ignoriert werden. Daher scheint es innerhalb der KMK Verständigungen darüber zu geben, dass das Elternwahlrecht, ausgehend vom Grundsatz der Selbstbestimmung, zumindest mittelfristig anerkannt werden soll.
Die Vorteile für die Bewahrer des alten Systems liegen bei dieser Lösung auf der Hand. Um den Eltern ein Wahlrecht zu garantieren, muss das Förderschulsystem aufrechterhalten werden. Das kommt auch Schulministerin Sommer entgegen, die gerne feststellt, dass es mit ihr kein Entweder-oder, sondern nur ein Sowohl-als-auch geben wird. Da man ja nur so den äußerst heterogenen Förderbedürfnissen der Kinder gerecht werde. Schon seit Jahrzehnten gibt es aber wissenschaftliche Beweise dafür, dass Förderschulen für Kinder mit Entwicklungsproblemen im Bereich des Lernens, des Verhaltens und der Sprache wegen ihrer lernschädlichen Wirkung möglichst umgehend auslaufen sollten. Dennoch bleiben sie als modernisierte Kompetenz- oder Förderzentren in ganz Deutschland erhalten.
Steuern lässt sich der Elternwille auch über die ungleichwertige Ausstattung der Förderorte. Genau diese Situation haben wir derzeit in allen Bundesländern. Deshalb gibt es Eltern, die zwar die gemeinsame Unterrichtung in der allgemeinen Schule wollen – aber dennoch die Förderschule wählen müssen, weil die Bedingungen einer umfassenden Versorgung für Kinder mit schwerwiegenderen Beeinträchtigungen dort besser sind. Die KMK hat zwar schnell schulformbezogene Bildungsstandards verbindlich eingeführt – um das gemeinsame Lernen hat sie sich aber nie gekümmert. Abgesehen davon, dass sie die Abschlüsse von Förderschülern ab diesem Jahr künstlich aufwertet.
Es gibt in allen Bundesländern einen großen Sanierungs- und Ausbaubedarf für den Gemeinsamen Unterricht. Innerhalb der KMK scheint sich auch die Meinung durchzusetzen, dass bei der vollständigen Freigabe des Elternwillens ein verbindliches Beratungsangebot durch die zuständige Schulbehörde sichergestellt werden muss. Dass damit auch Einschränkungen des Elternwahlrechts einhergehen, zeichnet sich ab. Als Hebel für staatliche Interventionsrechte bietet sich das „Kindeswohl“ an.
Der Staatssekretär des Schulministeriums in Mecklenburg-Vorpommern deutete im Rahmen des Kongresses der Lebenshilfe jüngst in Offenbach an, dass in der KMK-Diskussion über das „Kindeswohl“ auch die Rechte nichtbehinderter Schüler eine bedeutende Rolle spielten. Mit anderen Worten: Kann man es „normalen“ Kindern zumuten, zusammen mit Behinderten zu lernen? Man darf gespannt sein, welche konkreten Einschränkungen damit einhergehen.
Alle Bundesländer stehen nach der Ratifizierung der Konvention vor schulrechtlichen Änderungen. Ob in den Schulgesetzen das Recht des Kindes auf gemeinsames Lernen mit nichtbehinderten Kindern oder das Recht der Eltern auf Wahl des Förderortes steht, ist alles andere als egal. Davon hängt ab, ob es wirklich erste Schritte hin zu einem inklusiven Schulsystem geben kann, das am Ende vollkommen barrierefrei für alle Kinder mit und ohne Behinderungen gestaltet ist. Oder ob nur eine kosmetische Anpassung an die UN-Konvention vorgenommen wird.
■ Die Autorin hat zum Thema das Buch veröffentlicht: „ ‚Ich schäme mich ja so!‘ Die Sonderschule für Lernbehinderte als ‚Schonraumfalle‘“. Bad Heilbrunn 2007. 29,80 €