: Subtile Hetze in der größten Jugendzeitschrift
NS-SCHÜLERPROPAGANDA Überrascht stellten NS-Forscher fest, mit welchem pädagogischen Geschick die Nazis Schüler einwickelten. Die Forschungsstelle NS-Pädagogik hat „Hilf mit!“, die größte Schülerzeitung des Dritten Reichs, untersucht
BENJAMIN ORTMEYER
VON ANNA LEHMANN
Auf dem Umschlag ist die Welt in Ordnung. Mütter halten Babys, Jungen Segelflieger und Mädchen Hundewelpen in die Kamera. Die wirklich bösartigen Artikel sind rar und weiter hinten. Da erklärt ein Junge seinem Papa, warum er dessen Bücher als Altpapier verkaufen wird. „Das sind Judenbücher, Vater. Weißt du, so was gehört nicht in unseren Bücherschrank. – Ach so, sagt der Vater, ein wenig erstaunt.“ Die Schülerzeitschrift Hilf mit! druckte die Geschichte im November 1936, also drei Jahre nach der Machtergreifung Hitlers. Bis zur „Reichskristallnacht“ dauerte es noch zwei Jahre.
„Die Hilf mit! war ein Kernstück der nationalsozialistischen Beeinflussung von Schülern“, erläutert Benjamin Ortmeyer von der Forschungsstelle NS-Pädagogik in Frankfurt am Main. Die Zeitschrift erschien im NS-Staat in der heute utopisch hoch anmutenden Auflage von über 5 Millionen Exemplaren. Damit war sie nicht nur die auflagenstärkste Schülerzeitschrift im Dritten Reich, sondern auch die größte Jugendzeitschrift der Welt – und obendrein für die 11- und 12-jährige Leserschaft gratis.
Ortmeyer und sein Kollege Micha Brumlik haben zusammen mit studentischen Mitarbeitern erstmals alle Ausgaben der Hilf mit! von 1933 bis 1944 ausgegraben und ausgewertet. Die Ergebnisse sind gerade als Buch erschienen.
Verblüfft stellten die Forscher fest, wie professionell die Zeitung gemacht war. „Die damals mit Abstand beste Schülerzeitschrift im negativen Sinne,“ so Ortmeyer. „Nazipropaganda war ganz subtil eingestreut und didaktisch gut verpackt. Man hat das immer unterschätzt.“
Im Gegensatz zur HJ – dem Kampfblatt der Hitler-Jugend wickelte die Hilf mit! die Schüler in Alltagsgeschichten ein. Zwei Drittel der Artikel beschäftigen sich mit völlig harmlosen Themen, etwa dem Skifahren oder Stricken. Daneben erfuhren die Schüler dann aber auch, was eine Rasse ist und warum es den Menschen wie den Hühnern geht: kranke Hühner müssen aussortiert werden. „Eine geschickte Mischung aus Idylle und Hass“, meint Ortmeyer. Wenn die NPD heute für Spielplatzschaukeln kämpft oder Elternvertreter in die Schulen schickt, dann sei das im Grunde das gleiche Rezept, bestätigt er. „Die Ideologie wird hinter Alltäglichem versteckt.“
Die Hilf mit! war nach Einschätzung der Forscher ein fester Bestandteil des Schulalltags, die Linie des Blattes folgte den Erziehungszielen des NS-Staates. Dessen ideologische Hauptkomponenten waren Rassismus, gepaart mit Antisemitismus. Und so lasen auch die Schüler in der Hilf mit! über die Bedeutung der reinen Rasse und bekamen gleichzeitig die Feindschaft gegen Juden eingeimpft.
In einer der seltenen, offen antisemitischen Geschichten wird etwa Fähnleinführer Dieter – „Schultern wie ein Riese und einen mächtigen Schädel mit scharfem Kinn und Hakennase“ – beschuldigt, ein Jude zu sein. Dieter geht zum Gegenangriff über: „Jeder von euch wird jetzt einen Stammbaum aufstellen.“ Mithilfe der Kirchenbücher wird bewiesen, „wie sie alle untereinander arischen Blutes und germanischer Herkunft seien“. Der Urheber der Gerüchte aber – „Ein schmächtiger blasser Junge mit dunklem Haar und braunen Augen.“ – wird am Ende enttarnt: „Ein Fremdrassiger, ein Jude.“
Gehetzt wurde auch gegen behinderte Menschen und „Zigeuner“, aber nicht mit der gleichen Energie. Denn Behinderte wurden eher als lästig denn bedrohlich angesehen, und Roma und Sinti waren damals ja schon verhasst genug. „Der Boden musste nicht erst bereitet werden“, erläutert Ortmeyer.
Über die Pädagogik im Nationalsozialismus hält Ortmeyer auch Vorlesungen für Lehramtsstudierende in Frankfurt. Und er ist der festen Überzeugung, dass angehende Lehrer sich intensiver mit dieser Zeit und den Mechanismen von Rassismus und Ausgrenzung auseinandersetzen sollten. „Denn jeder Lehrer hat die Macht, zu indoktrinieren und zu manipulieren.“
Dem Nationalsozialistischen Lehrerbund, NSLB, der die Hilf mit! herausgab, gehörten seinerzeit 97 Prozent aller Lehrer an. „Man kann sagen, dass Lehrer eine tragende Rolle bei der Indoktrination der Schüler spielten“, schlussfolgert Ortmeyer.
Nach 1945 räumten die Sowjets im Ostteil auf und ersetzten die meisten Lehrer durch blutige Anfänger, sogenannte Neuleher. In den drei westlichen Besatzungszonen kehrten die Beamten des Hitlerregimes jedoch rasch wieder in die Klassenzimmer zurück und organisierten sich dann in den neu gegründeten Lehrerorganisationen.
Kein Wunder, dass sich Lehrergewerkschaften wie die GEW, angesichts personeller Kontinuitäten, bis heute nur zögernd mit der eigenen Geschichte auseinandersetzen. Ortmeyers aktuelles Projekt birgt also Sprengstoff: er untersucht gerade die Vereinszeitung des NSLB, die Nationalsozialistische Lehrerzeitung. Die Ergebnisse werden Anfang des Jahres 2014 veröffentlicht.
■ Benjamin Ortmeyer: „Indoktrination. Rassismus und Antisemitismus in der Nazi-Schülerzeitschrift „Hilf mit!“ (1933–1944). Unter Mitarbeit von Katharina Rein. Verlag Beltz Juventa, Weinheim und Basel, 2013