: Chaos als Chance
Katastrophen wie das Erdbeben in Pakistan oder der Tsunami in Aceh und Sri Lanka können zur Befriedung langjähriger Konflikte beitragen – wenn die Akteure bereit sind
Können Naturkatastrophen eine Chance für den Frieden bedeuten? Diese Frage tauchte im vergangenen Jahr gleich mehrfach auf – nach dem schweren Erdbeben im pakistanischen Teil Kaschmirs, dem rund 85.000 Menschen zum Opfer fielen, ebenso wie nach dem Tsunami, der vor allem im indonesischen Aceh und in Sri Lanka hunderttausende Tote forderte.
Das große Leid relativierte kurzzeitig die politisch-militärischen Konflikte und drängte die Hilfe für die Tsunami- und Erdbebenopfer in den Vordergrund. Den Konfliktparteien wurde eine Zwangspause verordnet, die Gelegenheit zur Reflexion, zu vertrauensbildenden Maßnahmen und zu neuen Friedensinitiativen bot. Das massive Eintreffen internationaler Helfer bis hin zu ausländischen Soldaten rief neue Akteure auf den Plan. So wurden die Regionen internationalisiert. Konfliktlösungen bekamen eine neue Dringlichkeit, weil es ohne dauerhaften Frieden keinen nachhaltigen Wiederaufbau geben kann.
In Aceh führte die Katastrophe zu einem Erfolg versprechenden Friedensprozess. Am 15. August 2005 schlossen Regierung und Rebellen der separatistischen „Bewegung freies Aceh“ (Gam) ein Abkommen. Es legt fest: Die Gam verzichtet darauf, Acehs Unabhängigkeit zu fordern, und gibt ihre Waffen ab; Militär und Polizei ziehen sich aus der Provinz zurück und die Regierung lässt gefangene Rebellen frei; zudem wandelt sich die Gam in eine Regionalpartei.
Schon vor dem Tsunami hatte sich gezeigt, dass der Konflikt militärisch nicht zu lösen ist. Ein Regierungswechsel im Oktober 2004 bot die Chance zu einer Kurskorrektur. Der neue Vizepräsident lotete bereits Möglichkeiten zu neuen Friedensgesprächen aus, als der Tsunami Aceh zerstörte. Die Armee, die Aceh abgeriegelt hatte, war mit der Hilfe völlig überfordert. Die Gam erklärte einen Waffenstillstand, die Regierung in Jakarta öffnete die Provinz für ausländische Helfer einschließlich Soldaten. Der Tsunami schwächte so die Kontrolle des Militärs und förderte die Suche nach politischen Lösungen.
Die neuen Friedensgespräche entwickelten sich positiv. Bei der Gam trug dazu die Einsicht bei, dass nach dem Tsunami die kriegsmüde Bevölkerung für neue Kämpfe kaum Verständnis haben würde. Der Tsunami bot der Gam die Chance zum gesichtswahrenden Rückzug und die Internationalisierung Acehs die Aussicht, nicht mehr allein indonesischen Politikern und Militärs ausgeliefert zu sein. Inzwischen ist die Gam entwaffnet und ein Gutteil der Militärs und Polizisten aus Aceh abgezogen. Zwar ist ein Scheitern des Friedensprozesses nicht auszuschließen. Doch bisher sieht es gut aus.
Ganz anders in Sri Lanka. Dort verstärkte der Streit um die Fluthilfe das Misstrauen zwischen singhalesisch dominierter Regierung und den separatistischen Tamilen-Rebellen der LTTE. Der Tsunami traf auf einen brüchigen Waffenstillstand, der „weder Krieg noch Frieden“ war. Unter Vermittlung Norwegens hatten sich Regierung und LTTE 2002 auf eine Autonomielösung in einem föderalen Staat geeinigt. Doch die LTTE-Vorschläge zur Ausgestaltung der Autonomie waren der Regierung zu separatistisch, die sich zudem in interne Machtkämpfe verstrickte. Das Ende der Friedensgespräche und des Waffenstillstands schien besiegelt.
Die Flut löste zunächst über alle ethnischen und sozialen Grenzen hinweg ein großes Solidaritätsgefühl aus und zwang Regierung und LTTE zur Kooperation. Doch nun versuchte die Regierung ihren Hoheitsanspruch auf die LTTE-Gebiete zu unterstreichen, da sie ja dort Hilfe organisierte. Die Rebellen ihrerseits wollten sich mit ihrer Hilfsorganisation von der überforderten Regierung absetzen. Sie warfen ihr außerdem vor, die Tamilengebiete zu vernachlässigen. Beide warfen sich gegenseitig vor, Hilfe für militärische Zwecke einzusetzen und neue Kämpfe vorzubereiten.
Da der Streit um Hilfe für die Tamilengebiete den Konflikt zu verschärfen drohte, knüpfte die internationale Gemeinschaft das Versprechen staatlicher Wiederaufbaumittel an die Einigung auf einen gemeinsamen Mechanismus. Eine Einigung wurde auch mühsam erzielt, doch verlor die Regierung einen Koalitionspartner, der die Einigung dann gerichtlich suspendieren ließ.
Ein weiterer Rückschlag waren die Präsidentschaftswahlen im November. Der Sieger, Mahinda Rajapakse, steht für ein härteres Vorgehen gegenüber der LTTE. Seinen Sieg verdankt er letztlich dem von der LTTE durchgesetzten Wahlboykott der Tamilen. Wären sie wählen gegangen, hätte der versöhnlichere Kandidat gewonnen. Inzwischen mehren sich die Zeichen für eine militärische Eskalation. Es gibt fast täglich politische Morde und Anschläge. So führte der Tsunami nur zur pietätsvollen Verlängerung des Waffenstillstands, ohne dem Friedensprozess neues Leben einzuhauchen.
Das Erdbeben in Pakistan bewirkte im Kaschmirkonflikt mit Indien keinen politischen Durchbruch, festigte aber den vorsichtigen Annäherungsprozess der verfeindeten Nachbarn. Das Beben traf den pakistanischen Teil Kaschmirs weit schwerer als den indischen. Delhi bot Islamabad als Hilfe sofort Hubschrauber samt Besatzung an. Doch das lehnte Pakistans Regierung ab. Sie schlug vor, die Grenze für Hilfslieferungen wie für Zivilisten zu öffnen, wohl wissend, dass Indien dies Probleme bereitet. Nach Wochen einigten sich beide Seiten auf die Öffnung von fünf Übergängen. Das war eher von symbolischer Bedeutung, denn bis zur Öffnung dauerte es weitere Wochen. Hinzu kommt: Die beiderseitigen Restriktionen lassen nur einen viel zu geringen Grenzverkehr zu.
Die Symbolik passt jedoch zur seit 2003 stattfindenden Annäherung zwischen Pakistan und Indien. Die Regierungen versuchen, das bilaterale Verhältnis aus der Geiselnahme durch den bisher dominierenden Kaschmirkonflikt zu befreien, der eine Normalisierung der Beziehungen jahrzehntelang blockierte. Stattdessen wird versucht, jenseits Kaschmirs Vertrauen aufzubauen. Seit April verbindet sogar erstmals nach fast 60 Jahren Teilung wieder eine Buslinie Srinagar im indischen Teil Kaschmirs mit Muzaffarabad im pakistanischen Teil. Die vorsichtige Öffnung der Grenze nach dem Beben folgt diesem Muster vertrauensbildender Maßnahme. Sie verstärkt den bisherigen Kurs, ohne das Tempo zu beschleunigen. Und es verlangsamt sich auch nicht, wenn islamistische Gruppen Anschläge verüben.
Die Beispiele zeigen: Naturkatastrophen bieten Chancen zur Konfliktlösung, aber garantieren keinen Automatismus. Vielmehr hängt alles von den jeweiligen Akteuren und Konstellationen ab. Nur in Aceh sind die beiden Konfliktparteien über ihren Schatten gesprungen und haben unter Aufgabe bis dahin zentraler Standpunkte eine Konfliktlösung ermöglicht. In Sri Lanka und Kaschmir stärkten die Katastrophen nur vorhandene Tendenzen – im Inselstaat das gegenseitige Misstrauen und zwischen Pakistan und Indien die vorsichtige Annäherung.
SVEN HANSEN