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Archiv-Artikel

Der Stein ist sein Leben

DENKER Søren Kierkegaard gilt als Wegbereiter der Existenzphilosophie. Leiden kultivierte er als dialektische Erfahrung. Am Sonntag jährt sich sein Geburtstag zum 200. Mal

„Ein Denker, der ohne Paradox ist, ist wie ein Liebhaber ohne Leidenschaft: ein mäßiger Patron. Aber die höchste Potenz jeder Leidenschaft ist immer, ihren eigenen Untergang zu wollen“

SØREN KIERKEGAARD

VON INGEBORG SZÖLLÖSI

Der Prototyp des Menschen, wie ihn sich die Existenzialisten vorstellen, ist Sisyphos. Er „wählt“ – ohne „Wahl“ kein Existenzialismus – die Hölle und wälzt tagein, tagaus seinen Stein auf einen Berg. Oben angekommen, erlebt er jedes Mal, wie der Stein hinunterrollt. Trotzdem wendet sich Sisyphos jedes Mal aufs Neue seinem Stein zu – der Stein ist sein Leben!

Ein glücklicher Mensch

Dass wir ihn uns als glücklichen Menschen vorzustellen haben, suggeriert nicht nur Albert Camus. Kierkegaard, den „Urvater der Existenzialisten“, müssen wir uns auch als einen glücklichen Menschen vorstellen – er „wählt“ in einem geschwätzigen Zeitalter das zurückgezogene Leben, in einem leidenschaftslosen Klima die Leidenschaft. Dafür will er freiwillig „leiden“. Denn ein Mensch muss Verzicht üben, will er „er selbst“ werden. Was daraus folgt, ist eine Revolution: Don Juan wird zum Asketen, der „sich eine Welt schafft ausschließlich für sich selbst, wo das verzweifelte Selbst sich rastlos und tantalisch damit beschäftigt, es selbst sein zu wollen“.

Kierkegaard ist ein Kind alter Eltern: Seine Mutter ist 45, sein Vater 57, als Søren, ihr siebentes Kind, am 5. Mai 1813 zur Welt kommt. Früh fängt er an, zu grübeln. Eine „Seele ohne Sonne“, die seit der frühesten Kindheit ein „Leben ohne Frühling“ führt und von einem „an Wahnsinn grenzenden Leiden“ verzehrt wird, so sein Biograf Georg Brandes. Als 33-Jähriger führt Søren sein Leiden auf ein „Missverhältnis zwischen Leib und Seele“ zurück. Das habe bei ihm eine unheilbare Schwermut zur Folge. Allerdings ließe sich diese auch auf die jütländische Heide zurückführen, aus der seine Vorfahren stammen.

So oder so – das Bild passt: Die Weite der Heide entspricht der Grenzen-, ja Maßlosigkeit des Kierkegaard’schen Denkens. Exzessives Denken bleibt nicht ohne Spuren: Manie und Depression sind bekannte Kollateralschäden. Dass Witz und Ironie, Heiterkeit und Humor in seinem Werk trotzdem vorkommen, zeigt die kürzlich erschienene Reclam-Textsammlung „Kierkegaard zum Vergnügen“.

Eine Liebesgeschichte entfacht Kierkegaards schriftstellerisches Talent. Als 27-jähriger verlobt sich Kierkegaard mit einem zehn Jahre jüngeren Mädchen aus gutbürgerlichem Kreise. Doch ein Jahr später löst er die Verlobung mit Regine Olsen auf. Was bleibt, ist das, was er als „Pfahl im Fleisch“ braucht, um das sein zu können, was er sein will: Schriftsteller. Von nun an schreibt er wie ein Besessener. In zehn Jahren schreibt er das, was die erste dänische Werkausgabe in 15 umfangreichen Bänden herausgibt. Eine gigantische Leistung. Dass der literarische Nachlass Kierkegaards ebenfalls erstaunlich voluminös ist, belegt die „Deutsche Søren Kierkegaard Edition“, die seit 2005 die „Journale“ publiziert. Soeben ist der erste Band einer Studienausgabe der „Ausgewählten Journale“ erschienen, die seine Notizen und Aufzeichnungen einer breiten Leserschaft zugänglich macht.

Kierkegaard lebt nicht leidenschaftlich, er schreibt leidenschaftlich. Er ist kein Verführer, doch stammt das „Tagebuch des Verführers“ aus seiner Feder. Ein „zeitloses Kunststück“ sei ihm damit gelungen, schreibt Elmar Krekeler in seinem pointiert formulierten Nachwort der im Manesse Verlag erschienenen Neuauflage des Tagebuchs. In unserem „ästhetischen, hedonistisch-pubertären Zeitalter“ sei es aktueller denn je. – Gerade darin ist Kierkegaard groß: Seine Lebenserfahrung spaltet er nicht ab, er integriert sie in die Beschreibung dessen, was er in seinem Hauptwerk „Entweder –Oder“ die „ästhetische“ Lebensführung nennt.

Ähnlich wie nach ihm Nietzsche erschüttert Kierkegaard das Vertrauen in die Ratio der Bewusstseinsphilosophen und zerschmettert deren universalistische Weltanschauungssysteme, durch welche diese die Existenz des Einzelnen kühn und kühl übergehen. Philosophie ist für ihn keine Wissenschaft, sondern eine Existenzlehre – dazu bestimmt, das Leben des Einzelnen tiefer zu verstehen. Dem Philosophen empfiehlt er den Weg des Paradoxes: „Denn das Paradox ist die Leidenschaft des Gedankens, und ein Denker, der ohne Paradox ist, ist wie ein Liebhaber ohne Leidenschaft: ein mäßiger Patron. Aber die höchste Potenz jeder Leidenschaft ist immer, ihren eigenen Untergang zu wollen.“

Wandlung zum Mystiker

Verfolgt der Philosoph die „Leidenschaft des Denkens“ beharrlich weiter, stößt er auf etwas, worüber er nicht mehr denken kann – etwas, was über das Denken hinausgeht und trotzdem im Denken begründet ist. Er fasst es als das „Religiöse“ auf, Wittgenstein nennt es später „das Mystische“. In seinen „Stadien auf dem Lebensweg“ erfahren wir, was er in den „Philosophischen Brocken“ nur andeutet. Der Philosoph kommt denkend an eine Grenze, die er als denkender Mensch nicht überschreiten kann, es sei denn er mutiert zum Mystiker. Diese Verwandlung empfiehlt Kierkegaard nicht nur, er vollzieht sie selbst und isoliert sich immer mehr. Kierkegaard wird zum Einsiedler ohne Mönchsorden und ohne Kirche. Dass die Kirche ein Auslaufmodell sei, verkündet er 1850 in seinem letzten großen Werk „Einübung im Christentum“. Blutarmut attestiert er ihr; zur größten Auszeichnung, „sich selbst zu gebären“, verhilft sie mitnichten.

In seinen letzten Lebensjahren spendet ihm die Lektüre eines Gottlosen Trost. Kierkegaard liest Arthur Schopenhauer. Wir können ihn uns dabei als glücklichen Menschen vorstellen.

1855 geht die zehnte Ausgabe seiner Zeitschrift „Der Augenblick“ in Druck, damit ist sein Vermögen verbraucht. Was nun? Die Frage bleibt dem 42-jährigen dänischen Theologen und Philosoph Søren Kierkegaard erspart: Ein Schlaganfall und – wenige Wochen später – der Tod befreien ihn von der Qual der Wahl zwischen Schriftstellerei und Pfarrei.

■ Søren Kierkegaard: „Ausgewählte Journale, Band 1“. Walter de Gruyter Verlag, Berlin/Boston 2013, 656 S., 29,95 Euro

■ Hermann Deuser und Markus Kleinert (Hg.): „Kierkegaard zum Vergnügen“. Reclam Verlag, Stuttgart 2013, 192 S., 5 Euro

■ Søren Kierkegaard: „Tagebuch des Verführers“. Manesse Verlag, Zürich 2013, 317 S., 19,95 Euro