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Archiv-Artikel

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Sexualität von geistig Behinderten ist nach wie vor ein gesellschaftliches Tabu. Obwohl sich Experten mittlerweile einig sind: Jeder hat ein Recht darauf, seine natürlichen Bedürfnisse auszuleben. Nur wie? Lieber mit einem Besuch bei einer Prostituierten oder doch mit Hilfe der Sexualbegleiterin?

Sex ist ein Erfolgsmerkmal.Das passt nicht zur Wahrnehmung, die viele von behinderten Menschen haben

VON KERSTIN SPECKNER

Peter ist 25 und hätte gerne eine Freundin. Sex hätte er auch gerne, gehört ja auch dazu, wie er findet. Doch selbst wenn Peter eine Freundin hätte, wäre Sexualität für ihn keine Selbstverständlichkeit wie für viele Gleichaltrige. Peter ist geistig behindert, wohnt in einem Wohnheim. Im Doppelzimmer. Einzelzimmer sind in deutschen Behindertenheimen die Ausnahme. Wenn Peter auswärts übernachtet, dann übers Wochenende bei seinen Eltern.

In vielen Schulen für geistig Behinderte gelten Küsschen als niedlich – bis das Paar mehr will. Behinderung und gelebte Sexualität ist für viele immer noch schwer vorstellbar, auch wenn sich in den vergangenen Jahrzehnten schon viel verändert hat. Heime sind nicht mehr nach Geschlechtern getrennt, große Schlafsäle sind Mehrbett-Zimmern gewichen, Einzelzimmer gibt es auch zunehmend. Dennoch: bei Jugendlichen mit geistiger Behinderung hängt die Entwicklung der Sexualität stärker vom häuslichen Umfeld ab, aus dem sie seltener als andere Jugendliche herauskommen. Viele leben betreut im Elternhaus oder im Heim und werden teilweise wie große Kinder behandelt, sollen zwar Alltagserfahrungen machen, aber sexuelle Erfahrungen gehören oft nicht dazu. Weil die Eltern das Thema vermeiden oder auch schlicht aus Mangel an Möglichkeiten.

Viele bewegen sich in einem engen Kreis zwischen Familie, Ganztagsschule oder Werkstatt und Wohnheim. Und wenn sich zwei finden: Wie weit dürfen sie dann gehen? Und was ist, wenn sich ein Paar Nachwuchs wünscht? Ist es dann Bevormundung oder Schutz, das zu verhindern – oder soll man den Kinderwunsch auf jeden Fall unterstützen und sich als Eltern vielleicht selbst um das Enkelkind kümmern, die eigene Freiheit für die Freiheit des Kindes einschränken? Was ist, wenn das Kind vernachlässigt wird, muss man es dann nicht auch schützen?

Zwar werden junge geistig behinderte Frauen nicht mehr zwangssterilisiert wie noch vor etwa 30 Jahren, aber viele der Frauen verhüten ab der Geschlechtsreife, ob sie Sex haben oder nicht. Die Pille neben dem Abendbrotteller – ist das nicht auch Bevormundung oder vielmehr Schutz und Vorbeugung?

„Bei Randgruppen zeigen sich immer allgemeine Probleme der Gesellschaft“, sagt Matthias Vernaldi von der Berliner Initiative Sexybilities. Hier beraten Betroffenen andere Betroffene. Bei Initiativengründer Matthias Vernaldi finden geistig und körperlich behinderte Menschen Beratung und vor allem praktische Tipps, auf Wunsch auch Kontakt zu Prostituierten. Vernaldi sitzt selbst im Rollstuhl und kann die Arme kaum bewegen. Er wohnt in einer eigenen Wohnung und ist daher viel selbstbestimmter als viele seiner Klienten. Auch in seiner Sexualität: In vielen Heimen sind Prostituierte nicht erwünscht, von den BetreuerInnen oder anderen HeimbewohnerInnen. „Wenn wir noch einen Kult haben, dann den Körperkult, Sex ist ein Erfolgsmerkmal, das passt nicht zur Wahrnehmung, die viele von behinderten Menschen haben.“

Wenn sich Menschen mit Behinderung entscheiden, in ein Bordell zu gehen, können sie das häufig nicht alleine, also ohne dass es jemand erfährt, realisieren. Sie müssen jemanden um Hilfe bitten, was auch für die HelferInnen nicht immer angenehm und einfach ist. Anfragen der vor allem männlichen Kunden bei Sexybilities lauten daher eher: „Gibt es ein Bordell, das rollstuhltauglich ist, wo mir jemand hilft?“ Die gibt es.

Ein anderes und ebenso großes Problem ist für viele die Bezahlung. Viele behinderte Menschen haben wenig Geld, bezahlter Sex als regelmäßige Selbstverständlichkeit ist daher utopisch, auch wenn die Preise derzeit niedrig sind. „Wir wollen aber nicht, dass Sex von der Krankenkasse bezahlt wird, weil damit eine weit verbreitete Haltung bestärkt wird, die den behinderten Körper ausschließlich als krank, unfähig und mangelhaft bewertet.“

Berührungsängste hätten manche Prostituierte bei Körperbehinderten seltener als bei Menschen mit geistiger Behinderung. „Ich habe mal einem jungen Mann mit leichter geistiger Behinderung geraten, seine Behinderung nicht zu erwähnen, das hat gut funktioniert“, sagt Vernaldi.

Hauptaufgabe der Initiative ist aber nicht, passende Prostituierte und Callboys zu vermitteln, sondern zu beraten. Viele wünschen eine Beziehung, wollen Tipps, wie sie jemanden kennen lernen können. „Dazu muss man sich selbst wohl fühlen, sich etwas gönnen können“, sagt Vernaldi. Eine spezielle Partnervermittlung für Behinderte lehnt er ab. Das wäre diskriminierend. Viele RollstuhlfahrerInnen wollen keinen behinderten Partner und auch keinen, der gezielt behinderte PartnerInnen sucht und diese dann aufopfernd pflegt, aber auch bevormundet.

Eine andere Möglichkeit, Sexualität zu erleben, ist Sexualbegleitung: Die KlientInnen lernen gemeinsam mit dem Begleiter oder der Begleiterin den eigenen Körper kennen, erleben Berührungen und Formen von Körperlichkeit und Sexualität. Vernaldi sieht darin zwei Probleme, einmal die Nähe zur Therapie: „Warum soll Sex nur als Therapie stattfinden und nicht als Bedürfnis?“ Und dann die Frage der Integration: „Man sollte den bestehenden Markt nutzen, anstatt eine spezielle Form sexueller Dienstleistung für Behinderte zu schaffen. Integration heißt, dort die Barrieren abzuschaffen. Schließlich gibt es auch keinen Bäcker speziell für Behinderte.“

Barrieren gibt es aber in der Realität noch viele. Die Hemmschwelle für Angehörige, auf deren Mithilfe vor allem Menschen mit geistiger Behinderung angewiesen sind, bei einer Sexualbegleiterin wie Nina de Vries anzurufen, ist oft niedriger. Zumal die Barrieren für Menschen mit geistiger Behinderung anders sind als etwa bei Rollstuhlfahrern, bei denen vielleicht ein Aufzug und breite Türen genügen. De Vries bietet vor allem für geistig behinderte Männer und Frauen Massagen, gegenseitige Berührungen. Wollen es ihre KundInnen, bringt de Vries sie auch mit der Hand zum Orgasmus. Die 45-Jährige hält es vor allem bei schweren geistigen Behinderungen für illusorisch, diese einfach in ein Bordell zu schicken. Was ist, wenn sie nicht kommunizieren können, die Prostituierten mit der Behinderung nicht umgehen können? „Wenn ich mitkriege, dass jemand lieber eine Prostituierte möchte, unterstütze ich das, auch wenn es eigentlich die Aufgabe seiner Betreuer wäre.“ Diese werden meist jedoch oft erst auf die Sexualität eines Behinderten aufmerksam, wenn dieser sich auffällig verhält, BetreuerInnen anfasst oder aggressiv wird. Sexualbegleitung wird dann zur Therapie, nicht Teil der Normalität. „Ich möchte Erfahrungen bieten, die meine Klienten anders nicht haben könnten, etwa mit jemandem nackt zu sein – intim angefasst werden möchte ich nicht. Als Sexualbegleiterin gehört das zu meinem Angebot.“

Viele Menschen mit schwerer geistiger Behinderung müssen lernen, mit dem eigenen Körper umzugehen. „Da reicht es nicht, ihnen ein Buch in die Hand zu drücken. Sie lernen durch Nachahmung.“ De Vries arbeitet auch mit Frauen, allerdings wird dies viel seltener angefordert. Vielleicht weil auffälliges Verhalten bei ihnen seltener in Zusammenhang mit Sexualität gebracht wird.

Mit behinderten Menschen umzugehen, als wären sie Kinder, oder ihnen nur Mitleid entgegenzubringen, findet sie falsch. „Man muss Menschen mit Behinderung Respekt entgegenbringen, kein Mitleid. Dazu gehört, vorher zu klären, dass es eine bezahlte Dienstleistung ist. Das kann man auch mit Menschen, die nicht sprechen können“, findet sie. Große Rabatte aus reinem Mitleid lehnt sie ebenfalls ab. Bei starken finanziellen Problemen ist sie jedoch verhandlungsbereit. Ein Hausbesuch von ihr kostet etwa 110 Euro. „Wenn ich jemanden, behindert oder nicht, ernst nehme, kann ich erwarten, dass er für Dinge, die ihm wichtig sind, sparen muss, wie andere auch.“

Auch wenn sich in vielen Einrichtungen etwas verändert hat, ist der Umgang mit dem Thema Sexualität noch schwierig. Von der vollständigen Tabuisierung über pauschal eingesetzte Empfängnisverhütung für Frauen ab der Geschlechtsreife bis hin zu Konzepten, die Partnerschaft und Sexualität fördern, ist es ein weiter Weg.

Die Münchner Lebenshilfe beispielsweise hat einen Leitfaden zu Paarbeziehungen erarbeitet, der Sexualität und Partnerschaft eindeutig befürwortet. Paare können gemeinsame Zimmer oder Wohnungen beziehen. Pro Familia bietet Beratung zu Sexualität und Partnerschaft auch für geistig Behinderte an. Es gibt inzwischen mehrere Initiativen, die auch Menschen mit geistiger Behinderung ermöglichen, Kinder zu haben und diese betreuen.

Dennoch spiegelt die Realität für viele Menschen mit geistiger Behinderung, dass vor einer erfüllten eigenen Sexualität die Sensibilisierung des Umfelds steht. Dazu gehört es, die genannten Möglichkeiten zu kennen und vor allem zu akzeptieren, dass Behinderte eine Sexualität haben wie jeder andere auch.