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Archiv-Artikel

Ein Kind verschwindet

AUS COTTBUS KIRSTEN KÜPPERS

Auch an diesem Tag raucht das Ehepaar B. in der Kälte noch eine Zigarette, draußen auf den Stufen vor dem Gerichtsgebäude. Danach machen sich Angelika und Falk B. wie nach jedem Verhandlungstag auf den Weg nach Hause in ihre Wohnung, ins Cottbusser Plattenbaugebiet Sandow. Die Wohnung ist still, die kleinen Kinder sind weg, und dort, wo die Kühltruhe stand, klafft jetzt ein kahler Spalt zwischen den Möbeln. Das Gericht hat darauf verzichtet, das Ehepaar B. in Untersuchungshaft festzuhalten, solange der Prozess läuft. Wo sollen die beiden auch hin? Geld ist keins da, und für eine waghalsige Flucht fehlt es den B.s sowohl an Entschlossenheit als auch am Sinn für Extravaganzen.

Drei Monate zieht sich die Verhandlung schon hin. Das Schlimme bleibt. Die 44-jährige arbeitslose Angelika und ihr 38-jähriger, ebenfalls arbeitsloser Mann Falk B. haben ihren Sohn Dennis so lange vernachlässigt, bis der Junge im Alter von sechs Jahren starb. Viele Zeugen wurden vor dem Landgericht Cottbus gehört; sogar die Kühltruhe ließ der Richter herbeischaffen, ein unförmiges altes Gerät mit bunten Pokémon-Aufklebern an der Seite. Als sich beim Öffnen der Truhe Leichengeruch im Saal ausbreitete, vergrößerte das nur die Fassungslosigkeit über die Teilnahmslosigkeit eines Elternpaares. Zur Aufklärung trug die Truhe nicht bei.

Angelika B. saß mit einer Freundin im Wohnzimmer beim Kaffee, als im Juni 2004 die Polizei in ihre Wohnung stürmte. Eine Mitarbeiterin des Jugendamtes hatte die Beamten alarmiert. In der Kühltruhe fand die Polizei die Leiche des Jungen. Sie hatte zwei Jahre und sechs Monate dort gelegen.

Dennis B. ist an Auszehrung und Entkräftung gestorben, haben die Gutachter festgestellt. Monatelang, jahrelang hat der Junge zu wenig Nahrung bekommen. Bis er verhungert war.

Angelika B. erzählt es so: Dennis habe Fieber gehabt, an einem Tag im Dezember 2001 sei das gewesen, sie habe ihm einen Tee gekocht, und als sie wieder in sein Zimmer ging, habe er „einfach nicht mehr geatmet“. Verängstigt habe sie den Jungen in eine Decke gerollt und im Bettkasten versteckt.

Ihrem Mann und den sieben anderen Kindern in der Wohnung hat sie erklärt, der Junge sei mit einem Hubschrauber in ein Krankenhaus nach Berlin geflogen worden, wegen eines Zuckerschocks. Einen Tag später hat sie den toten Sohn in die Kühltruhe gelegt. Sie hat ein Deckchen oben drüber gebreitet und die Kaffeemaschine draufgestellt.

Einer fehlt: Dennis B.

Die Geschichte von Dennis B. ist traurig. Sie handelt von der ungeheuren Verdrängungsleistung einer Familie. Die Tage neben der Kühltruhe verstrichen wie gewohnt. Familie B. benahm sich, als sei es nicht aufgefallen, dass eine Person fehlte. Angelika B. ging zum Einkaufen, sie stand am Tresen der Kneipe in der Plattenbausiedlung oder saß zu Hause, Zentimeter neben einer Kühltruhe, die früher oder später jemand öffnen würde.

Auch nach Dennis’ Tod hat Angelika B. Sozialhilfe und Kindergeld für ihn kassiert: 3.800 Euro in zwei Jahren. Überhaupt schlingert das Dasein der B.s beständig zwischen Geldnot, Überforderung und der Abhängigkeit von Transferleistungen. Vielleicht fängt das Ehepaar deswegen oft schon nachmittags an zu trinken. Freunde kommen in die Wohnung, für die viele Zeit ohne Arbeit ist genug Alkohol da. Auch nachdem man das tote Kind in der Truhe gefunden hatte, kamen die anderen weiter mit Flaschen vorbei. „Über die Sache mit Dennis haben wir nicht geredet“, sagte eine Bekannte der B.s vor Gericht aus.

Die Geschichte von Dennis B. geht so: Ein Kind verschwindet aus seiner eigenen Familie. Nach und nach, aber unaufhaltsam passiert das. Dennis hätte Schwierigkeiten gemacht beim Essen, sagen die Eltern; zweimal hätte sie seine Latzhose enger nähen müssen, erklärt Angelika B. Sonst können die beiden wenig über ihren Sohn erzählen. Nachts sei er in der Wohnung herumgelaufen. Falk B. gibt zu, dass sie den Jungen deswegen mit einem Bademantelgürtel ans Bett gefesselt haben.

Auf Fotos im Familienalbum sieht man einen mageren Jungen. Er sitzt neben seinen Geschwistern und guckt teilnahmslos zur Seite. Angelika B. erklärt, sie habe keinen Arzt gerufen, weil sie Angst hatte, als schlechte Mutter dazustehen. Irgendwann war Dennis B. zu schwach zum Laufen, er saß in einer Ecke, an den Heizkörper gelehnt, er konnte nicht mehr sprechen. Der Gerichtsmediziner hat festgestellt, dass Dennis B. zum Zeitpunkt seines Todes etwa fünf Kilo gewogen hat, ein Gewicht, das zum Überleben eines 6-jährigen Kindes nicht genügt. „Er ist einfach immer weniger geworden“, sagt der Vater und blickt nervös im Gerichtssaal umher.

Der verstorbene Dennis B. führte als Phantom ein seltsames Eigenleben: Die Direktorin gratulierte der Familie im Jahr 2002 mit einem Brief zur Einschulung; da war Dennis seit über einem halben Jahr tot. Auch in den Ausreden der Mutter lebte er weiter: Demnach lag ihr Sohn schwer zuckerkrank in einem Berliner Krankenhaus. Das Verschwinden von Dennis B. war ein Vorgang von leiser Dramatik, dem keine Reaktion folgte. Niemand fragte nach, niemand wollte Genaueres wissen.

Falk B. ist ein schwerer Mann mit einem stumpfen Schnauzbart unter der Nase. Gebeugt sitzt er auf seinem Stuhl im Gerichtsaal, als hoffe er, er könne in der ganzen Aufregung einfach übersehen werden. Er habe immer eine große Familie gewollt, erwähnt Falk B. einmal. Man kann sich fragen, warum die Eltern ausgerechnet Dennis schlechter behandelt haben als die anderen Kinder.

Angelika B. sitzt auf der Anklagebank und hält sich die Hand vors Gesicht, eine mädchenhaft wirkende Frau mit langen dunklen Haaren. Elf Kinder hat sie geboren. Drei Kinder hat sie zur Adoption freigegeben, die anderen Söhne und Töchter waren immer wieder zeitweise anderswo untergebracht. Weil sie unter Depressionen litt, weil ihr Mann im Gefängnis war, weil sie es allein nicht schaffte. Fünf Monate nach der Geburt von Dennis springt Angelika B. betrunken aus dem Fenster, das Baby kommt ins Heim. Als sie ihn nach Hause holt, ist der Junge drei Jahre alt, Angelika B. hat bereits zwei neue Kinder, um die sie sich kümmern muss. Es scheint, als habe Dennis nie geschafft, dazuzugehören.

Eine hat das Sagen: Angelika B.

Es gibt ein Video, das im Gericht vorgeführt wird. Es ist am Geburtstag von Angelika B. im Sommer 2001 aufgenommen. Sie trägt ein altmodisches Schneewittchen-Kleid, die Kamera verfolgt sie beim Schminken vor dem Spiegel, dann tanzt Angelika B. zu lauter Schlagermusik. Die Gäste kommen, sie wirft Kusshände in die Kamera und lacht dreckig. Einmal ist Dennis zu sehen, kaum zu erkennen. Er steht wippend draußen im Flur. Die anderen kleinen Geschwister stolpern zwischen den immer betrunkener werdenden Erwachsenen im Wohnzimmer umher. Und bevor der Abend dann irgendwann in besoffene Schlüpfrigkeiten auf der Couchgarnitur abgleitet, ist es vor allem die Überlegenheit von Angelika B., die der Film zeigt.

Auch der psychiatrische Gutachter hat eine „starke Ichbezogenheit“ bei Angelika B. festgestellt. Vielleicht hat sie sich diese eigennützige Art zugelegt, weil sie gelernt hat, von anderen nichts zu erwarten. Als junges Mädchen schickte ihre Mutter sie in eine Putzkolonne, obwohl sie lieber Näherin im Textilkombinat geworden wäre. Später geriet Angelika B. an einen Ehemann, der sie schlug. Schließlich lernte sie Falk B. kennen, einen unerfahrenen Mann, der sich von einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme zur nächsten hangelte. Die beiden heirateten schnell. Aber Falk B. lässt seine Frau immer wieder mit den Kindern allein: wenn er in die Kneipe geht; wenn er wegen verschiedener Delikte im Gefängnis sitzt; wenn er sich aus einem diffusen Ruhebedürfnis heraus in sich selbst zurückzieht.

So kommt es, dass Angelika B. entscheidet, was in der Familie passiert. Nach mehreren Intelligenztests kommt der Gutachter zu dem Schluss: „Falk B. ist seiner Frau intellektuell und sozial weit unterlegen.“ Falk B. meint: „Ich mache immer, was sie mir sagt.“

Nach Dennis’ Verschwinden machte sich bei ihm eine Ahnung breit im Kopf. Aber nur nachts im dunklen Wohnzimmer, wenn der Fernseher lief und nach vielen Schnäpsen wagte Falk B., nach Dennis zu fragen. „Weil ich keinen Streit mit ihr haben wollte.“ Es ist dieses Durchsetzungsvermögen, das Angelika B. die Lügen auch vor Behörden so überzeugend erzählen ließ, dass keiner zweifelte. Diese Selbstgewissheit, die Angelika B. vor Gericht beweist, wenn sie das Tischmikrofon an sich zieht und die Aussagen ihres Mannes verbessert. Ihr Gesicht ist glatt und friedlich dabei.

Das Opfer, Dennis B., schien dagegen auch im Gerichtssaal manchmal verloren zu gehen. Während Videorekorder herein- und herausgefahren wurden, Mikrofone fiepten, der Gestank der Kühltruhe im Raum hing und es wirkte, als sei das Gericht vor allem auf eine spektakuläre Inszenierung bedacht, kam das eigentliche Verbrechen des Ehepaars B. irgendwie abhanden. Die Anwälte sprachen lieber von den schweren Kindheitserlebnissen der Angeklagten. Die blieben insgesamt wortkarg. Die meisten Zeugen konnten sich nicht erinnern, weil die Sache mit dem Jungen lange her ist und mittlerweile eine Menge Alkohol getrunken worden ist.

Einer sagt es: der Gutachter

Am Ende versuchte sich wenigstens der psychiatrische Gutachter dem Geschehen in der Plattenbauwohnung zu nähern: „Angelika B. konnte wohl nie eine funktionierende Bindung zu Dennis aufbauen.“ Angelika und Falk B. haben gewusst, dass sie Hilfe hätten holen müssen. Sie hatten Erfahrung mit Kindern, die Bedrohlichkeit der Situation war für beide über Monate erkennbar. „Dennis hätte gerettet werden können.“

Es sind diese Sätze, die bleiben vom Fall Dennis B. Sie reichen für eine Verurteilung aus. Gestern hat Staatsanwalt Tobias Pinder für beide eine lebenslange Freiheitsstrafe gefordert, wegen gemeinschaftlich begangenen Mordes und der Misshandlung eines Schutzbefohlenen.

Bis zum Urteil, das am 14. Februar erwartet wird, dürfen Angelika und Falk B. noch zu Hause in Sandow bleiben. Ihre vier kleinen Kinder sind bei Pflegefamilien untergebracht, drei große Söhne wohnen noch in der Wohnung. In Brandenburg soll die Meldepflicht für einzuschulende Kinder jetzt strikter durchgesetzt werden, denn natürlich hatte es nach dem Fall Kritik gegeben an den Behörden. Die Trinkerfreunde in der Kneipe der Plattenbausiedlung sind inzwischen keine Freunde mehr. Neulich soll einer sein Glas gehoben und gerufen haben: „Kastrieren sollte man die!“