: Zwoa Brettln im Schnee
Die einfachste Sache der Welt: Der Arlberger Ski-Guru Hannes Schneider prägte das Skilaufen wie kein Zweiter
von STEFAN SCHOMANN
Geflucht soll er haben, der Gegenpapst, als er am Arlberg in den Schnee fiel. Johannes XXIII. war anno 1414 auf dem Weg nach Konstanz, zum großen, versöhnenden Konzil, als sein Papamobil, ein unförmiger Pferdekarren, umkippte und ihn hinausschleuderte. Seither besteht am Arlberg eine Verbindung zwischen Schnee und Papsttum. 500 Jahre später sollte ein Bauernbub namens Hannes Schneider als Skipapst Geschichte machen. Er entwickelte die Arlberg-Technik – stark angedrehter Stemmschwung, Parallelschwung, tiefe Hocke – und ausgefeilte Lehrmethoden. Dank seinem System konnte Skilauf sich zum Breitensport entwickeln. Auch wenn seither manche Neuerung hinzukam – wer je einen Skikurs besucht hat, bei dem steht der Schneider-Hannes immer noch mit auf den Brettern.
St. Anton am Arlberg war der erste Wintersportort Tirols. Schon vor über 100 Jahren kamen Gäste aus halb Europa in das schmale, von mäßig steilen Bergen umrahmte Tal. In jenen Tagen wurde Skilaufen noch als „liebenswerter Unsinn“ belächelt, heute ist es eine Großindustrie. Damals herrschte hier Winter in Reinkultur, und jeder Abfahrt ging ein mühevoller Aufstieg voraus. Heute sind die Berge durch 86 Lifte und Bahnen verkabelt, 150 Schneekanonen schicken Frau Holle in den Ruhestand.
Im alten Hotel Post begann Hannes Schneider 1907 als „permanenter Skilehrer“. Schon damals verkündete er: „Ich werde Geschwindigkeit ins Skifahren der Menschen bringen. Die Geschwindigkeit ist der Reiz an der Sache, nicht das Herumfahren.“ Mancher lernt’s nie, aber der Hannes, der konnte es. Zunächst erteilte er noch nach Belieben Privatunterricht. Erst der Krieg zwang ihn, ein System zu entwickeln. Als Ausbilder eines k. u. k. Bergführerregiments scheuchte er seine Kameraden wochenlang über die Hänge, mitsamt Gewehr und Tornister. Eine gute Technik war eine Frage von Leben und Tod.
Die Gruppenübungen, die Staffelung der Leistungsniveaus, die Standardisierung der Schwünge, das straffe Regiment – dieses militärische Erbe brachte Schneider mit zurück nach St. Anton. 1921 gründete er seine eigene Skischule. Auch wenn die Arlberg-Hocke anfangs noch als „Klostil“ verhöhnt wurde, setzten sich seine Methoden bald in den gesamten Ostalpen durch, wurden auch früh schon für die amtliche deutsche Skilaufausbildung vorgeschrieben.
Die Schule feiert gerade 85-jähriges Jubiläum, womit sie die älteste Skischule der Welt darstellt und eine der größten dazu. In Stoßzeiten sind hier 400 Lehrer im Einsatz. Richard Walter, der jetzige Leiter, beschreibt ihren Gründer als „einen Skibesessenen, der seiner Zeit voraus war“. St. Anton habe sein Renommee als Wiege des alpinen Skisports vor allem Schneider und seinen Schülern zu verdanken. Schon in den Dreißigerjahren drang ihr Ruf bis nach Übersee. Der Meister wurde zu Tourneen durch Amerika und Japan eingeladen, wo er mitunter 500 Schüler an einem Tag abfertigen musste. Eine weitreichendere Wirkung aber erreichte er durch ein Medium, für das er wie geschaffen war: den Film.
Ein junger Geologe, Bergfex und Filmpionier namens Arnold Fanck sah Schneider bei einem Schaulaufen und verliebte sich in seinen eleganten Fahrstil. Ihr erstes gemeinsames Projekt wurde 1920 der Lehrfilm „Wunder des Schneeschuhs“, wie man Skier damals noch eindeutschte. Zusammen mit einem Begleitbuch, das kinematografische Reihenbilder als Anschauungsmaterial benutzte, mobilisierte dieser Film ganze Legionen für den Wintersport. Schneider versicherte: „Skifahren ist die einfachste Sache der Welt.“
Die Sportskanone aus Tirol war die Idealbesetzung für alle Abenteuer im Schnee: ein starker Typ mit Zigarettenspitze, Wolljackett und Schildkappe. Das kernige Profil wie geschnitzt, mit vorspringender Nase, kräftigen Kiefern und sich leicht kräuselndem Haar. In der Folge wirkte er in einem Dutzend Filme mit, darunter „Der Kampf ums Matterhorn“, „Der heilige Berg“ und „Die weiße Hölle am Pitz Palü“. Was der Western für Amerika, wurde der Bergfilm für Europa: ein heroisches Genre, das heimische Mythen teils bekräftigte und teils erst schuf. Mit einem Bergfilmfestival, das alljährlich im September stattfindet, erweist St. Anton dieser Gattung heute wieder Reverenz.
Sportlich wie auch kommerziell war „Der weiße Rausch“, entstanden 1931, am erfolgreichsten. Schneider spielt darin einen Skilehrer namens Hannes. Auch seine Filmpartnerin, eine Berliner Winterfrischlerin namens Leni, brauchte sich nicht groß zu verstellen. Als Tochter eines Weddinger Installateurmeisters entsprach Leni Riefenstahl genau dem Typus der frechen Göre aus der großen Stadt. Drei Viertel des Films füllt eine Verfolgungsjagd, bei der fünfzig Skilehrer die beiden über alle Berge jagen. Die Musik schrieb Paul Dessau. Auch wenn man seinen Ohren kaum trauen möchte bei Schnulzen wie „Zwoa Brettln, a gführiger Schnee, juchhe!“.
Für Riefenstahl wurde St. Anton zur zweiten Heimat. Immer wieder flüchtete sie vor Liebes-, Geld- und Karrierenöten an den Arlberg – „Fräulein Riefenstahl, ein gewisser Dr. Goebbels hat schon mehrere Male angerufen“. Für die spätere Olympia-Regisseurin bedeutete Wintersport mehr als nur Körperertüchtigung. Ein Skihaserl mit Zähnen und Klauen, war sie mit gleich dreien ihrer Skilehrer nacheinander liiert: Luis Trenker sowie Hans Schneeberger und Walter Prager, Letztere zwei der besten Rennläufer ihrer Zeit. Mutter Berthas Kommentar dazu: „Nie kommst du mit einem gescheiten Mann.“
Nur Hannes Schneider blieb aus unbekannten Gründen verschont. Während seine Filmpartnerin zur führenden Regisseurin des Reichs aufstieg, begannen für ihn unruhige Zeiten. Nach 1933 kamen kaum mehr deutsche Urlauber nach Österreich. Auch vermeintlich gemütliche Orte wie St. Anton polarisierten sich. Nach einem Eklat entließ Schneider einen Nazi-Lehrer. Die Rache folgte nach dem „Anschluss“: Schneider wurde verhaftet und in die Festung Landeck verschleppt. Die Nazis rissen sich die Skischule unter den Nagel, der Querulant wurde Bürgermeister.
Wie Schneider schließlich freikam, ist eine unglaubliche Geschichte. Ein amerikanischer Bankier, der seinem Geburtsort ein Skigebiet spendieren wollte, hörte von den Nöten des berühmten Mister Schneider. Das Schicksal wollte es, dass dieser Bankier über Kredite entschied, die Deutschland in den Staaten aufgenommen hatte. Dadurch war er mit Reichsbankpräsident Schacht bekannt. Er versprach ihm Stundung, dafür bekam er seinen Skimaster. Mit drei Kollegen und seiner Familie zog Schneider nach New Hampshire, wo sie am Fuß der White Mountains ein Skigebiet aufbauten. „Es ist nicht St. Anton“, sagte er, „aber wir werden diese Gegend lieb gewinnen.“ Dort starb er, hoch geehrt, im April 1955. Wenige Monate zuvor kam Riefenstahl wieder einmal an den Arlberg, um einen Film über die „roten Teufel“, Tirols Ski-Asse nämlich, vorzubereiten. Just zu dieser Zeit weilte auch Schneider zu Besuch in der alten Heimat. Ein festlicher Empfang stand an. Als die Leni aus Berlin den Saal betreten wollte, wies der Hannes ihr die Tür.
STEFAN SCHOMANN lebt als freier Journalist in Berlin