piwik no script img

Archiv-Artikel

Ausbruch aus der Dunstglocke der Angst

ZEITZEUGE Er ließ sich von den rebellierenden Arbeitern anstecken, warf selbst Steine und bekam es schließlich mit der Angst zu tun: Klaus Gronau erlebte den 17. Juni 1953 als Jugendlicher mit. Dass seine Familie sich nie heimisch in der DDR fühlte, hatte viele Gründe – und einen ganz speziellen

Der 17. Juni 1953

■ Die DDR ist zu Beginn der fünfziger Jahre zutiefst konfliktgeladen, der Kurs der SED, die den Sozialismus nach dem Vorbild der Sowjetunion installieren will, verhärtet sich. Als Auslöser des Aufstands gilt der Beschluss der Partei, die Normen der Arbeiter zu erhöhen, ihnen also mehr Leistung ohne Lohnzuwachs abzuverlangen.

■ Zwischen 16. und 21. Juni 1953 kommt es zu Widerstandsaktionen in gut 700 Orten, über eine Million Menschen beteiligen sich daran. Sie fordern weit mehr als die Rücknahme der Normerhöhungen, nämlich unter anderem das Ende des SED-Regimes, gesamtdeutsche Wahlen und die Wiedervereinigung. Die Aufständischen sind wütend, aber auch hoffnungsvoll.

■ Die sowjetischen Truppen beenden das Aufbegehren kompromisslos und brutal. Im Zusammenhang mit dem Aufstand rechnet man mit 15.000 Festnahmen. Bis Ende 1954 verhängen ostdeutsche Gerichte mehr als 1.500 Haftstrafen und zwei Todesurteile.

■ Laut dem Projekt „Die Toten des Volksaufstands vom 17. Juni 1953“ sind 55 Todesopfer durch Quellen belegt, etwa 20 weitere Todesfälle sind ungeklärt. In Berlin starben im Zusammenhang mit dem Aufstand mindestens 14 Menschen.

■ Veranstaltungen zum 60. Jahrestag: Am 16. Juni ab 10.30 Uhr am Bundesfinanzministerium (Wilhelm- Ecke Leipziger Straße). Unter anderem um 10.30 Uhr Generationendialog mit Klaus Gronau, 10.50 Uhr Podiumsdiskussion mit Daniela Münkel und Roger Engelmann von der Bundesbehörde für die Stasiunterlagen, 12 Uhr Festakt und Benennung des Platzes in „Platz des Volksaufstandes 1953“ mit Finanzminister Wolfgang Schäuble. 17. Juni, 11 Uhr, Seestraße 92: Kranzniederlegung am Mahnmal für die Opfer auf dem Friedhof Seestraße mit dem Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit. 18. Juni, 14 Uhr, Karl-Marx-Allee/Straße der Pariser Kommune: Eröffnung der Ausstellung „Stalinallee – Schauplatz des 17 Juni – Ein Kiosk voller Erinnerungen“ mit Zeitzeugenberichten, Porträts und Bildern von Ylva Queisser und Lidia Tirri.

VON SUSANNE MESSMER

Klaus Gronau betritt das Café Sibylle in der Karl-Marx-Allee als formvollendeter Gentleman. Er trägt Nadelstreifensakko, polierte Schuhe, Hosenträger und eine Aktentasche voller Fotos und Dokumente unterm Arm. Es ist heiß, er bittet darum, den Schlips bis zum Fototermin ablegen zu dürfen, und plaudert zunächst einmal über eine Italienreise mit seiner Frau – Ende der Sechziger. Sie hatten damals schon ein Auto, wollten aber trotzdem unbedingt mit der Eisenbahn fahren. Warum? „Wir wollten uns einmal im Zug lieben“, sagt er, und plötzlich blitzt etwas sehr Schelmisches in seinen Augen auf.

Klaus Gronau, 76, ist ein viel gefragter Zeitzeuge des 17. Juni 1953. Er kommt selten durcheinander, redet im Ton eines Märchenerzählers, der Bilder im Kopf entstehen lässt. Gerade mal 14 war er, ein Fachverkäuferlehrling in der DDR, als er am Nachmittag des 16. Juni 1953 auf dem Weg von der Schule nach Hause in die Boxhagener stehen blieb.

Am heutigen Frankfurter Tor geriet er in eine Gruppe randalierender Arbeiter – mitten hinein in den beginnenden Volksaufstand. Er sah einen, der mit dem Vorschlaghammer „ein Auto entzwei haute“– „das muss man sich mal vorstellen, wo Autos Mangelware waren und nur die Allerreichsten sich eines leisten konnten“. Er war sofort Feuer und Flamme. Endlich konnte sich all der Frust der letzten Jahre entladen: „So wat von uffregend.“

Klaus Gronau hatte so etwas bislang nicht einmal zu denken gewagt, denn eigentlich spielte Politik bei den Gronaus keine Rolle. Nie waren die Eltern in einer Partei gewesen, vor 1945 nicht und danach auch nicht. Die Mutter, eine Köchin, war froh, als der Vater, gelernter Soldat, 1939 aus dem Kriegsdienst entlassen wurde und zur Post ins heutige Polen durfte. Trotzdem wurde der Vater, so Klaus Gronau, kurz vor dem 17. Juni 1953 denunziert, in der NSDAP gewesen zu sein. Er wurde von den Russen nach Karlshorst abgeholt, allerdings nach zehn Tagen wieder entlassen. Schikanen durch Kollegen folgten, die Versetzung als Postbote in einen Vorort. Doch auch wenn man bei den Gronaus heimlich RIAS hörte: Am 17. Juni blieb das Ehepaar zu Hause.

Nicht so Klaus. Er roch das große Abenteuer, marschierte am 16. Juni mit bis zur Spree, wo ein paar Wärterhäuschen im Wasser landeten. Auch er riss „Verherrlichungsplakate“ runter, schmiss Steine, dann ging es weiter bis zum Ostkreuz, wieder über die Stalinallee, quer durch Mitte und bis vors Haus der Ministerien, dem heutigen Bundesfinanzministerium an der Wilhelmstraße.

Auch am nächsten Tag, dem 17. Juni, widersetzte sich der Jugendliche dem Willen der Eltern und ging zu den Demonstrationen, zuerst zum Strausberger Platz, wo alles „schwarz war vor Menschen“, dann weiter zum Lustgarten. Erst, als er Zeuge wurde, wie die Volkspolizei an der Oberbaumbrücke in die Luft und dann immer tiefer schoss, wie am Alexanderplatz die russischen Panzer auffuhren, erst, als er einen Mann mit schwarzem Regenmantel und Stullendose wiedererkannte, den er schon am Morgen gesehen hatte, bekam er Angst.

Der Mann lag überfahren auf der Straße, neben ihm die Dose, „platt wie eine Briefmarke“. Klaus Gronau hatte vermutlich einen der ersten Toten des Aufstands in Berlin gesehen, war Zeuge eines bis heute ungeklärten Todesfalls geworden. Er rannte im Dauerlauf zurück nach Hause. Und ging schon am übernächsten Tag wieder zur Schule.

Wer Gronau heute reden hört, könnte zunächst meinen, die Erlebnisse hätten ihn zum strammen Antikommunisten und Konservativen gemacht. 1957 flüchtete die Familie Gronau in den Westen. Sie hatten, so Klaus Gronau, dem Vater ein Heft der Berliner Satirezeitschrift Tarantel in die Manteltasche geschoben. Er musste in den Westen, ins Notaufnahmelager Marienfelde, und holte bald die Familie nach.

Klaus Gronau arbeitete sich zunächst zum Straßenbahnschaffner bei der BVG hoch und wurde dann erfolgreicher Geschäftsmann in Westberlin. Bis heute wohnt er „im reichen Charlottenburg“, wie er gern betont. Er wurde begeistertes Mitglied der CDU, sogar Bürgerdeputierter in der dritten Legislaturperiode ist er.

Doch der Schein trügt: Ganz so konservativ ist Gronau nicht. Ein Vierteljahrhundert lang betieb er am Hermannplatz ein Restaurant, die Bar Mister X, in unmittelbarer Nähe damals hoch frequentierter Läden wie dem Tanzlokal Neue Welt und dem Ballhaus Resi. Schwärmerisch erzählt Klaus Gronau von seiner Klientel, den „Paradiesvögeln der Nacht“, die nach dem Tanzen zu ihm kamen, darunter viele Künstler und Homosexuelle. Sogar Travestie- und Schlangenshows gab es in seiner Bar, „wir haben es jede Nacht küssend ausklingen lassen“, fügt er an. Er hat es sehr genossen, das wilde Westberlin – und erst ziemlich am Ende unseres Gesprächs rückt er damit raus, warum.

Die Familie Gronau war nicht nur wegen der Anfeindungen des Vaters nie mit der DDR warm geworden. Klaus Gronau war nicht nur auf die Straße gegangen, weil er die damalige Wohlerzogenheit und die „Dunstglocke der Angst“, wie er es nennt, durchbrechen wollte: Die klaustrophobische Atmosphäre, die sich aus der Klassenkampf-Propaganda, den Verhaftungen, der Einschränkung der politischen Freiheiten zusammensetzte, die die SED in ihrem rigiden Kurs vor dem Volksaufstand verschärfte.

Als Tunte beschimpft

Der Mann lag tot auf der Straße, erzählt Gronau, daneben die Stullendose, „platt wie eine Briefmarke“

Es war vor allem Klaus Gronaus älterer Bruder, der seine Einstellung und die seiner Familie prägte. „Soll ich es sagen?“, fragt er, „na ja, wir sind doch modern.“ Sein Bruder Heinz war schwul. „Immer ist er in Stiefeln die Straße runter“, sagt Gronau. „Er wurde oft als Tunte beschimpft“.

Diesem repressiven Klima wollten sich die Gronaus entziehen. Für Klaus Gronau war auch die Stalinallee nie ein Symbol der neuen Macht des Proletariats. Paläste für Arbeiter? „Wir wussten“, sagt er, „dass da nur ein Bonzenviertel entsteht.“ Klaus Gronau und seine Clique: Keiner wäre da auf die Idee gekommen, zu den Pionieren oder zur FDJ zu gehen. Man wollte Englisch lernen statt Russisch, ging bolzen, sprang schon im März ins warme Abwasser des Kraftwerks Klingenberg. Oder ging über die Oberbaumbrücke, um in Kreuzberg zu flippern oder ins Kino zu gehen. Die Grenze war ja noch nicht dicht. „Wir waren ein Völkchen für uns“, sagt Gronau.

Ein Revolutionär war Klaus Gronau also nicht, aber das macht ihn typischer für die Demonstranten des 17. Juni, als man sich vorstellen mag. Der Frust war einfach so groß geworden, dass er auch die Unpolitischsten nicht kalt ließ. Die Flucht in den Westen war unvermeidlich.

Aber Klaus Gronau hat den Schritt nie bereut, in den Westen zu gehen, sagt er, kurz bevor er „austreten geht“, um sich fürs Foto zu kämmen und den Schlips zu binden. Charlottenburg ist Gronaus Heimat geworden. Aus dieser Perspektive findet er es interessant, sich ausgerechnet im nostalgischen Café Sibylle zu treffen, inmitten der protzigen Zuckerbäckerarchitektur, an einem Ort, der mit einer kleinen Ausstellung auch eine Art Heimatmuseum für all jene bietet, die hier leben oder sich für die heutige Karl-Marx-Allee und ihre Geschichte interessieren. Vorsichtig schaut Gronau sich um. „Vor zehn Jahren sah man sie noch öfter, diese strammen Bonzen“, sagt er. Er ist überzeugt, dass hier niemand eingezogen ist, der damals demonstriert hat.

„Man erkannte die schon an der Kleidung“, setzt er nach. Und später, bei einem Spaziergang über die Allee, ein wenig nachdenklich: „Wer da nun wohnt?“