LESERINNENBRIEFE :
Von Mahatma Gandhi lernen
■ betr.: „Bis hierher und nicht weiter“, taz vom 20. 6. 2013
Der Artikel über den vielfachen stummen und reglosen Protest auf dem Taksimplatz und anderen Orten hat mich sehr berührt. Die Menschen stehen im Sinne des Wortes für ihre Rechte, ihre Würde und Verletzlichkeit ein. Mit offenem Gesicht und dem „Personalausweis in der Hand“. Da ist sie ja, die von mir so schmerzlich vermisste gewaltfreie „Politik der überfüllten Gefängnisse“ von Mahatma Gandhi! Wie sollen die vielen missbrauchten jungen Polizisten begreifen können, dass es bei den Protesten im Kern um die Verwirklichung einer menschengemäßen Gesellschaft geht, wenn nicht durch solche Aktionsformen wie diese hier oder Sitzblockaden oder Die-ins oder Ähnliches. Diese Erkenntnis bleibt ihnen allerdings erspart, wenn sie sich mit einer vermummten und zu aktivem Widerstand bereiten Menge konfrontiert sehen. Wann begreifen der internationale Schwarze Block und ähnliche Revolutionäre, dass sie durch ihre von Hass getriebenen, größenwahnsinnigen Angriffe auf die Marionetten des Systems in beeindruckender Weise dem jeweiligen Staatsschutz dienen? JENS KOTULLA, Mannheim
Wir sind das Volk
■ betr.: „Solidarität mit den Capulcus“, taz vom 22. 6. 13
Ja, die meisten Menschen hier in Deutschland mit Migrationshintergrund aus der Türkei solidarisieren sich mit den Protesten in der Türkei. Spielt es denn eine Rolle, dass es Kulturschaffende sind? Die eigentlich wichtigen Personen sind doch die Menschen auf der Straße.
Im Internet tauchen nur diverse Berühmtheiten auf, die ganz vorsichtig den Ministerpräsidenten oder Staatspräsidenten auffordern, das Volk zu respektieren und die Gewalt zu unterlassen. Keiner dieser Kulturschaffenden hat mich überzeugt, weil sie selbst auch Angst haben, dass sie zum Beispiel ihre Jobs verlieren.
Wir brauchen diese Kulturschaffenden. Durch Theater, Musik, Filme erweitert sich unser Horizont. Aber das Volk in der Türkei möchte gehört und respektiert werden, wie es auch in Brasilien verlangt wird. Die Kulturschaffenden mit türkischem Migrationshintergrund in Deutschland sind meist säkular oder politisch eher links ausgerichtet. Viele der konservativ-religiösen treten nicht sehr stark im Vordergrund auf, aber es gibt sehr viele AKP-nahe MigrantInnen. Von daher wird die Frage nach der Solidarität ziemlich klar sein.
Ich habe meinem Cousin in Izmir geschrieben, um zu erfahren, wie es vor Ort ist. Die Antwort ist beeindruckend und ehrlich zugleich. „Wir erleben hier jeden Tag die Solidarität zu Taksim, und wir sind das Volk und trotzdem werden wir von den Ordnungshütern, der Polizei, nicht in Ruhe gelassen, obwohl wir friedlich auf den Straßen sind.“ Die türkischen Medien, die über die Proteste berichtet haben, wurden bestraft, bei einem unabhängigen Sender wurde der Strom abgestellt, die Mitarbeiter durften das Gebäude nicht verlassen.
Weiterhin bedanke ich mich für die Berichte von Jürgen Gottschlich, Deniz Yücel, Daniel Bax und anderen ReporterInnen. Vor allem bedanke ich mich bei den Menschen, die tagtäglich sich solidarisieren und es verstanden haben, dass das Gemeinschaftsgefühl wichtig für ein friedliches Miteinander ist. HEKO SANLI, Konstanz
Freiwillig zur Brennpunktschule?
■ betr.: „Wenn nur die Praxis nicht wäre“, taz vom 19. 6. 13
Es ist interessant zu hören, dass Herr Hüppe (CDU) Inklusion so gut verstanden hat – jedenfalls hat die „hochrangig besetzte Konferenz“ dies offensichtlich nicht. Inklusion ist in der Breite (und Schwere der Problematik) kein Eingliederungsversuch körperlich beeinträchtigter Kinder, sondern von Kindern aus bildungsfernen Schichten. Nur so lassen sich Entlastungsmaßnahmen für Brennpunktschulen erklären, wie sie zum Beispiel in Hamburg eingeführt werden und faktisch auf eine Sonderbehandlung vieler Inklusionskinder hinauslaufen (Erweiterung des Einzugsbereiches für Paragraf-12-Kinder, temporäre Lerngruppen). Inklusion in diesem Sinne zielt darauf ab, gesellschaftliche Randgruppen aus der Isolation zu holen. Diese Bestrebungen werden aber gerade von Bildungsbürgern (auch Mitgliedern hochrangig besetzter Konferenzen) oder CDU-Wählern in der Regel unterlaufen. Oder würden Sie Ihr Kind (sofern vorhanden) freiwillig in einer Brennpunktschule anmelden? JAN ZIEROTT, Hamburg
Ideologische Inklusions-Blase
■ betr.: „Wenn nur die Praxis nicht wäre“, taz vom 19. 6. 13
Der Artikel ist in Bezug auf die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen schlecht recherchiert. Von einer Abschaffung bestimmter Schulformen und Errichtung einer „inklusiven“, ausschließlich möglichen „Schule für alle“ ist dort nicht die Rede. Schon bei der Verschiedenartigkeit der weltweiten Schulsysteme wäre das abwegig. Der Laie mag sich wundern, dass der angerichtete schulpolitische Flurschaden etwas mit „Menschenrechten“ zu tun haben soll – der Blick in die UN-Konvention zeigt denn auch etwas anderes: Das auf die hochdifferenzierten Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen eingehende Dokument hat mit der ideologischen Ingebrauchnahme durch die „Inklusions“-Bewegung nichts zu tun. Daran ändert auch die skandalös tendenziöse Positionierung von Hubert Hüppe nichts – mit der er seinem Auftrag, sich für die Belange von Menschen mit Behinderungen insgesamt einzusetzen, zuwiderarbeitet. Gut, wenn die taz beginnt, die Ecken und Kanten bei der „Umsetzung“ des „großen Wortes Inklusion“ wahrzunehmen. Will sie sich für die Belange benachteiligter Menschen einsetzen, hätte sie bei der Frage anzusetzen, wie es überhaupt zu dieser ideologischen Blase gekommen ist. MARTIN CUNO, Siegen