: Ein ungewöhnlicher Start in den Ramadan
TÜRKEI Gezi-Aktivisten der Gruppe „Antikapitalistische Muslime“ organisieren ein improvisiertes Fastenbrechen in der Fußgängerzone, die zum Taksimplatz führt. Am Rande des Parks begeht die Regierungspartei AKP den Abend unter Polizeischutz
TEILNEHMERIN AN DER AKTION
AUS ISTANBUL JÜRGEN GOTTSCHLICH
Es begann völlig unauffällig. Nur wer etwas genauer hinschaute, erkannte in dem ständigen Menschenstrom auf der Istiklal Caddesi, der prominenten Istanbuler Fußgängerzone, die auf den Taksimplatz führt, plötzlich immer mehr Leute, die Tüten voller Lebensmittel dabei hatten.
Viele wussten natürlich, was los war. Seit zwei Tagen trommelte die Gruppe Antikapitalistische Muslime über soziale Netzwerke für die Teilnahme an einem alternativen Iftar am ersten Tag des Ramadan, also dem gemeinsamen Fastenbrechen der Muslime bei Sonnenuntergang.
Ungefähr um 20:30 Uhr, wenige Minuten bevor von allen Moscheen das Ende des ersten Fastentages verkündet wurde, ging alles ganz schnell. Die ersten Leute breiteten Zeitungspapier und Tischdecken auf der Straße aus, andere setzten sich und packten ihre Lebensmittel auf den provisorischen Iftar-Tisch. Mit jeden zehn Metern, die die improvisierte Tafel länger wurde und sich in Richtung Taksimplatz ausdehnte, klatschten umstehende Leute Beifall und riefen den Slogan der letzten Wochen: „Überall ist Taksim, überall ist Widerstand“.
Blitzschnell ließen sich nun immer mehr Menschen nieder. Auch einige Restaurants entlang der Fußgängerzone beteiligten sich an der Aktion und brachten abgepackte Esspakete auf die Straße hinaus. Mit der Aktion protestierte die Gruppe der Antikapitalistischen Muslime gegen die Polizeigewalt der letzten Tage. Auf der Istiklal Caddesi hatte die Schlägertruppe der Antiaufstandspolizei noch einen Tag zuvor stundenlang Demonstranten gejagt und verprügelt, die den angeblich wiedereröffneten Gezipark besuchen wollten.
Schon im Vorfeld des Fastenbrechens hatte sich im Zentrum von Istanbul eine bizarre Szenerie entfaltet. Erstmals seit drei Wochen war der zuvor so heftig umkämpfte Park für die Allgemeinheit wirklich geöffnet. Zwar patroullierten etliche Zivilpolizisten um die neu bepflanzten Beete, aber jeder, der wollte, konnte den Park betreten und sich dort niederlassen.
Während vor allem Touristen in den mittlerweile berühmten Park strömten, begannen Vertreter der Regierungspartei AKP direkt am Rande des Geziparks auf dem Taksimplatz eine Bühne, Tische und Stühle für ihre eigene Ramadan-Feier aufzubauen. Unter den Klängen eines islamischen Schnulzensängers feierte hier am Abend ein ausgesuchtes Publikum die Rückeroberung des Taksimplatzes durch die Staatsgewalt bei einem von der AKP-Stadtverwaltung organisiertem Iftar-Essen. Bevor es soweit war, setzten sich aber noch die am Rande des Taksimplatzes mittlerweile fest stationierten Einheiten der Polizei mitsamt Wasserwerfern in Richtung Istiklal Caddesi in Bewegung. Für einen Moment sah es so aus, als sollten tatsächlich auch fastenbrechende Muslime von Wasserwerfern und Polizeiknüppeln weggefegt werden. Doch die Truppe stoppte am Ausgang der Istiklal Caddesi auf dem Taksimplatz und sperrte lediglich die Straße.
Offenbar hatten die arrivierten AKP-Muslime Angst, dass ihnen das antikapitalistische muslimische Fußvolk den Ramadan verderben könnte. Denn die improvisierte Fastentafel auf der Istiklal Caddesi wurde länger und länger und endete am Schluss genau vor der Polizeikette. Unter die Muslime mischten sich zusehends auch weniger fromme Anhänger der Gezi-Bewegung, die das erste Mal seit der Räumung des Parks wieder ein richtiges Gemeinschaftserlebnis genossen. „Ich habe noch nie einen so schönen ersten Ramadantag erlebt“, sagte eine junge Frau, die einen ganz und gar säkularen Eindruck machte.
Schon zuvor hatte Ihsan Eliacik, der bärtige Wortführer der linken Muslime, jeden Passanten auf der Istiklal Caddesi eingeladen, am Fastenbrechen teilzunehmen. „Wir schließen jeden friedlichen Menschen in unsere Ramadanfeier mit ein“, sagte er zu Beginn der Aktion gegenüber mehreren anwesenden Journalisten. „Das ist ja der Sinn des gemeinsamen Fastenbrechens, den unsere islamischen Politiker wohl längst vergessen haben.“
Am Ende blieb in Istanbul an diesem Abend alles friedlich. Die schlechte Nachricht kam dann am Mittwochmorgen. In Eskisehir, einer Stadt auf halber Strecke zwischen Istanbul und Ankara, erlag am Morgen der 19 Jahre alte Gezi-Demonstrant Ali Ismail Korkmaz den Verletzungen, die er sich Tage zuvor von Polizeischlägen geholt hatte.