REVOLUTION & SEIDENTUCH
: Trommelkybernetik

Obszöner Applaus, zuckende Körper

Mein erster Besuch in der Philharmonie, und prompt bin ich Zeuge einer Revolution geworden. Meine ich jedenfalls. Ist sie nicht der Ort wehender Seidentüchlein? Man ist ja schon einiges gewohnt. Oder gucken die Bismörcks gerade zu uns rüber? Na jedenfalls stand der Kammersaal der Philharmonie am Donnerstag kopf. Gespielt hat der iranischstämmige Mohammad Reza Mortazavi, solo, auf Trommeln. Tjaha … fragen Sie mal die Frau zu Stauffenbock, was da mit ihr abging, als es sie nicht mehr auf dem Sitz gehalten hat. Mortazavi spielte auf dem „Tombak“ und dem „Daf“, traditionellen Trommeln, aber mit Tradition hatte sein Spiel herzlich wenig zu tun. Mehr schon mit Pink Floyd 1968 in der Royal Albert Hall. So psychedelisch, dass der Frau Osterlich eingefallen sein muss, wie sie sich in ihrer Jugend mal haschischrauchend toller Musik hingegeben hatte. Abgefahren! Das kann nicht sein, Effekte und noch zehn andere Trommler irgendwo versteckt. Oder nicht? Nein, zwei Hände, eine Trommel, keine Effektgeräte. Aber wie kann Mortazavi gleichzeitig mehrere Rhythmen und noch Melodien in verschiedenen Tonhöhen erzeugen? Wie verbindet er den Berghain-Sound mit Tschaikowsky? Wie verbindet er Beats per Minute mit feinen komplexen Melodien, die darübergelagert sind? Ein Blick in Mortazavis Gesicht zeigte, dass er ganz woanders ist. Sein gesamtes Wesen verschmolz mit der Trommel. Er war die Musik. Ein Derwisch, der es zum Punkt der Selbstaufgabe gebracht hatte und die Zuhörer in Ekstase versetzte. Keine philharmonischen Hemmungen mehr, obszöner Applaus, Rufe, zuckende Körper. Schließlich ging der Musiker geradewegs ins Publikum hinein. Sprang auf und trug die Trommel durch die Zuschauerreihen, führte die Zuschauer direkt in den Sound. Die dankten es ihm mit frenetischem Applaus, im Stehen. Mortazavi spielte vier Zugaben. SAM T. FARD