: Einziger Lebensmittelpunkt
In St. Georg hat das Prostituierten-Hilfsprojekt Ragazza neue Räume bezogen. Dort gibt es 300 bis 400 Frauen, die zur Beschaffung ihrer Drogen anschaffen müssen. Gerade Sperrgebiets-Regel führt zu Entrechtung und Freiergewalt
von KAIJA KUTTER
Auch am gestrigen 8. März wieder war vom Menschenhandel die Rede und von den Zwangsprostituierten, die anlässlich der Fußballweltmeisterschaft in Hamburg erwartet werden (siehe unten). Derweil wird Kritik daran laut, wie inflationär diese Begriffe gebraucht werden. „Viele dieser Frauen kommen freiwillig“, erklärte gestern beispielsweise Katrin Schrader vom Prostituierten-Projekt „Ragazza“. „Das Problem ist, dass sie illegal hier sind.“
Das 1991 von Domenica mit initierte Hilfsprojekt lud gestern zur Einweihung seiner neuen Räume nach St. Georg ein. Der Umzug in die Brennerstraße 19 war nötig, weil der alte Mietvertrag nicht verlängert worden war. Die Suche nach Ersatz geriet für die elf Mitarbeiterinnen zu einem Kraftakt. Nun aber gibt es wieder einen Gesundheitsraum, wo Spritzen gesetzt werden können, Schlaf- und Aufenthaltsräume sowie Waschgelegenheiten für die Prostituierten auf St. Georgs Straßenstrich.
Die „Ragazza“-Mitarbeiterinnen helfen den zumeist drogenabhängigen Frauen mit Gesprächen und Sozialberatung, suchen sie auf der Straße auf, verteilen warme Getränke und Kondome – oder schicken ihnen Pakete ins Gefängnis. Beinahe alle betreuten Frauen haben Kinder und leiden unter der Trennung.
„Ragazza ist für die oft der einzige Lebenmittelpunkt“, erklärte Heike Zurhold vom „Zentrum für Interdisziplinäre Suchtforschung Hamburg“, die kürzlich eine Studie zur Lage dieser jungen Prostituierten anfertigte. Hamburgweit gebe es 4.000 Prostituierte, auf St. Georg gingen 300 bis 400 drogenabhängige Frauen der Beschaffungsprostitution nach. 60 Prozent davon lebten in „ungesicherten Wohnverhältnissen“ – bei Freiern oder auf der Straße –, weshalb für sie ein Ausstieg illusorisch wäre. Für dringend erforderlich hält Zurhold deshalb betreute Wohnangebote.
Noch gravierender wirke sich aber die Sperrgebietsverordnung in Hamburg aus, die Prostitution in St. Georg verbietet. Weil die Frauen dadurch auf der Hut vor der Polizei sein müssten und nicht die Ruhe hätten, mit den Freiern zu verhandeln, würden diese die Preise drücken, so dass für sexuelle Dienstleistungen armselige „15 bis 20 Euro keine Seltenheit sind“. Hinzukomme, so Zurhold, dass die Frauen sich zu Sexpraktiken wie Kondomverzicht genötigt sähen, die sie sonst nicht akzeptieren würden. Absurderweise zähle aber das Mitführen von Kondomen bei der Polizei als Anzeichen für illegales Anschaffen.
Da die Freier um die Zwanglage der Frauen wüssten, würden 70 Prozent von ihnen Opfer von Gewalt, darunter Entführungen und Vergewaltigungen. Um die Frauen vor dieser „Freiergewalt“ zu schützen, seien „mutige Schritte“ erforderlich. Etwa wie im Kölner Modell: Dort wurde der Drogenstrich aus der City verlegt in eine Straße mit speziellen „Verrichtungsboxen“ mit Notknopf, wodurch die Gewalt „gegen Null“ zurückging.
Die „Ragazza“-Sozialarbeiterinnen sehen dieses Modell indes skeptisch, weil Illegale und Minderjährige davon ausgenommen sind. Die GAL-Frauenpolitikerin Verena Lappe regt derweil an, darüber nachzudenken, „ob man diese Sperrgebietsgrenzen noch haben will“.