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Bürger wollen mitreden

SCHÖNEBERG Für Investoren sind die vielen ehemaligen Bahnflächen zwischen Schöneberg und Kreuzberg ein gefundenes Fressen: Sie wollen hier Wohnraum errichten, natürlich gern hochpreisig

Schöneberg in Zahlen

■ Gebiet: 10,61 Quadratkilometer umfasst der Ortsteil Schöneberg, der nördlichste Ortsteil des Bezirks Tempelhof-Schöneberg. Seit der Verwaltungsreform im Jahr 2001 ist Schöneberg, gemeinsam mit Friedenau, kein eigenständiger Bezirk mehr und mit dem Bezirk Tempelhof zusammengefasst. Bei einer Gesamtfläche des Bezirks von 53,09 Quadratkilometer ist Schöneberg nach dem Ortsteil Tempelhof der zweigrößte.

■ Bevölkerung: Tempelhof-Schöneberg ist der Ortsteil mit den meisten Einwohnern im Bezirk: Mehr als ein Drittel, nämlich 114.582 Menschen, wohnen hier. Die Bevölkerungsdichte gilt mit knapp 11.000 Einwohnern pro Quadratkilometer im Bezirk als dicht besiedelt. Nur Friedenau ist dichter besiedelt. Im ganzen Bezirk Tempelhof-Schöneberg wohnen 336.114 Menschen. Das entspricht 15,6 Prozent der Einwohner in ganz Berlin.

■ Migrationshintergrund: Im Ortsteil Schöneberg leben etwa 40 Prozent Menschen mit Migrationshintergrund. So viele leben in keinem anderen der Ortsteile. Etwa 20 Prozent sind Ausländer. Im gesamten Bezirk wohnen etwa 30 Prozent Menschen mit Migrationshintergrund.

■ Miete: Je nach Wohnungsgröße gibt die Internetplattform www.immowelt.de eine durchschnittliche Miete von 8,70 bis 10,08 Euro an. Damit liegt Schöneberg über der Berliner Durchschnittsmiete. (witt)

VON HELENA WITTLICH

Auf der roten Tischdecke im Ponte Rosa liegt ein Stapel leerer Listen. 7.000 Unterschriften brauchen Cordula Mühr und ihre vier Mitstreiter, die sich in dem Biergarten an der Kreuzbergstraße getroffen haben. Dann hätte das Bürgerbegehren Erfolg, mit dem sie ein Neubauprojekt in Schöneberg verhindern wollen. Es geht um ein früheres Bahngelände an der Bautzener Straße zwischen Yorck- und Großgörschenstraße. Der jetzige Grundstücksbesitzer will die brachliegende Fläche für Wohnungsneubau nutzen.

Diesmal sind sie zu fünft, aber insgesamt hat die Bürgerinitiative Stadtplanung von unten um die zehn aktive Mitglieder. Die meisten kommen ursprünglich aus ähnlichen Initiativen in Schöneberg, die sich alle für die Nichtbebauung einstiger Bahnflächen starkmachen. Bei ihren wöchentlichen Treffen sprechen sie auch kurz über andere aktuelle Bauprojekte wie das in der Crellestraße, wo die BI Crellekiez Zukunft um den Erhalt von drei Linden kämpft, oder über die Kollegen von der BI Eylauer Straße direkt an der Grenze zu Kreuzberg, wo längst Fakten geschaffen wurden. „Habt ihr gesehen?“, fragt einer, „der Rohbau an der Ecke steht.“

Im Gegensatz zu den Flächen in der Eylauer und der Crellestraße, auf denen nach der Freigabe durch das Eisenbahnbundesamt bereits Baurecht lag, muss dieses in der Bautzener Straße noch vom Bezirksamt vergeben werden. Die BI will die Grünfläche erhalten, vor allem um die Schadstoffbelastung rund um die viel befahrene Yorckstraße zu begrenzen. Cordula Mühr, die auch Quartiersrätin ist, könnte sich Gemeinschaftsgärten auf einem Teil der Fläche vorstellen. Empört ist die Gruppe über die abgeänderte Empfehlung des Stadtentwicklungsausschusses. So soll etwa die vertraglich vorgeschriebene Mietdauer in den Neubauten nur fünf anstatt sieben Jahre betragen.

Die Brache als Chance

Bezirksstadträtin Sibyll Klotz (Grüne), zuständig für den Bereich Stadtentwicklung, betrachtet die Bautzener Brache als Chance, das Baurecht mit sozialpolitischen Zielen zu verknüpfen. Mindestens 20 Prozent der geplanten Wohnungen sollen bezahlbare Mietwohnungen werden. „Entweder ich lasse ein hochverdichtetes Brachgelände so liegen, oder ich verhandle mit dem Bauherrn“, sagt sie. Dieser sei bereit, sich auf viele soziale und ökologische Forderungen einzulassen. „Ehe er das gewinnbringend weiterverkauft und der Nächste das anders sieht.“

Während an der Bautzener Straße noch gekämpft wird, ist südlich der Monumentenbrücke nichts mehr zu machen. Das erste Gebäude steht schon. „Heute haben wir Glück, die Baustelle ist ruhig“, sagt Stefan Schaaf von der BI Eylauer Straße. Er wohnt in einem der Seitenflügel, die jahrzehntelang am Rande der Bahntrasse standen und jetzt quasi von hinten zugebaut werden. „Wir haben alle, alle Werkzeuge ausgeschöpft“, sagt Schaaf. Viele seiner Nachbarn überlegten nun wegzuziehen. Noch würden Vermieter mit dem freien Blick werben – das sei bald vorbei.

„Als ich kam, war die Genehmigung für die Eckbauten vorbereitet und musste erteilt werden“, sagt Sibyll Klotz zu dem Projekt namens Lokdepot. Sie habe aber Bedingungen für den Rest des Baus vorgegeben. Die Höhe sei reduziert, ein Spielplatz und ein öffentlicher Zugang zum Grünzug seien geschaffen worden. Man habe den Dialog mit den Anwohnern gesucht. Stefan Schaaf sieht das anders. „Die Bürgerbeteiligung ist so eine Farce“, beschwert er sich. „Der Bezirk hatte die Baugenehmigung nicht mal auf die Website gestellt.“

Auch unter den Linden an der Crellestraße gibt es Klagen über mangelnde Bürgerbeteiligung. Anja Jochum von der BI Crellekiez Zukunft sitzt auf einer Bank unter den Bäumen, die von den Anwohnern bunt geschmückt wurden. An den benachbarten Häusern hängen Transparente gegen den Neubau.

„Die Bürger werden vom Projekt ausgeschlossen, aber dann wirbt man mit ihnen“, kritisiert Jochum. Tatsächlich beschreibt der Investor auf der Homepage des Projekts Haus Crelle die Atmosphäre im Kiez als Vorzug. Genau die sehen Jochum und Co. durch den Zuzug im neuen Haus beeinträchtigt.

Heftige Baumaße

„Wir sind nicht grundsätzlich dagegen, dass hier gebaut wird“, meint Jochum. „Wir wollen, dass die Mischung im Kiez erhalten bleibt.“ Dazu brauche man Mietwohnungen, kein Luxuseigentum. Zumal die Anwohner den geplanten Neubau überdimensioniert finden. „Die Baumaße in der Crellestraße finde ich heftig“, sagt auch Stadträtin Klotz, „aber das darf ich nicht entscheiden.“ Über einzelne Bauanträge befinde die Verwaltung.

Insgesamt geht es um knapp 500 Wohnungen. In der Crellestraße 22 a sollen 34 Eigentumswohnungen entstehen, laut Website des Investors sind noch zehn zu haben. An der Eylauer entstehen etwa 220 Wohnungen, auch hier hat der Verkauf schon begonnen. „Das Einzige, was noch passieren könnte, wäre, dass die Vermarktung nicht funktioniert“, sagt Stefan Schaaf. Von den geplanten 250 Wohnungen an der Bautzener sollen nach dem Willen von Sibyll Klotz 80 Prozent Mietwohnungen werden – so will sie es vertraglich mit dem Investor regeln.

Doch die BI will weiterkämpfen. „Bauen, bis es kracht“ sei die Devise der Politik, kritisiert die Gruppe im Biergarten. Dabei gebe es genug Leerstand. Auch Anja Jochum fände es schön, wenn aus dem Grundstück in der Crellestraße ein Spielplatz würde, wie es ein früherer Bebauungsplan vorsah. „In zwanzig Jahren stehen wir hier und fragen, wie konnte man das nur bauen?“, sagt sie. Mittlerweile würden sie sich aber auch mit weniger zufrieden geben – etwa mit dem Erhalt der Linden oder einer Verkleinerung des gesamten Baus.

Unterstützung bekommen sie durch die anderen Initiativen, vor allem online. „Wir stehen alle vor ähnlichen Problemen“, sagt Jochum. Die Mitglieder der Bürgerinitiativen teilen die Sorge um Gentrifizierung und den Verlust von Grün auf ehemaligen Bahnflächen. Und alle sind enttäuscht von den Grünen. „Wir staunen, dass die sich da so starkmachen“, sagt die BI der Bautzener Brache.

Stadträtin Klotz sieht das Problem anderswo. „Der Sündenfall ist doch, dass die Deutsche Bahn als Staatsunternehmen alles verkauft hat, anstatt erst mal den Städten die Flächen anzubieten. Die hätten dann selbst Wohnungsbau betreiben können. Nun sind es Investoren aus zweiter, dritter Hand.“

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