: Ist der Machtmissbrauch im Lehrerberuf angelegt?
PRO
Macht ist keine Eigenschaft. Sie ergibt sich aus Strukturen, Kommunikation und Symbolen. Die Position, die Lehrer innehaben, verleiht ihnen Macht. Und ein geschlossenes System, wie die Schule eines ist, bietet ein weiches Fundament für Gewalt und Missbrauch – egal, ob es sich dabei um eine Reformschule oder ein katholisches Internat handelt.
Macht findet dort ein Ende, wo sie kontrolliert und ihr Missbrauch sanktioniert wird. Über das, was Lehrer tun, gibt es keine ausreichende Kontrolle. Die Türen der Klassenzimmer sind geschlossen, ebenso die der Lehrerzimmer. In Ersterem wird gelehrt und gekämpft, dort konstituiert sich Macht. In Letzterem rückt man solidarisch zusammen, wenn man von außen angegriffen und kritisiert wird, dort wird sie verteidigt.
Eine monatliche Supervision, ein Blick von außen könnte schon reichen, das geschlossene System Schule ein bisschen aufzubrechen und mehr Transparenz zu schaffen. Das würde, neben der notwendigen Kontrolle, auch eine Entlastung bedeuten für einen der härtesten Jobs, die es gibt.
„Freund, Helfer und Vorbild“ solle der Lehrer sein, schrieb Hartmut von Hentig in seiner Stellungnahme zu den Missbrauchsvorwürfen gegen seinen Freund Gerold Becker. Das verkennt die Realität, in der ein Machtgefälle existiert zwischen Lehrer und Schüler. Freundschaft ist ein utopisches Ziel für eine Beziehung, die sich auf Lehre und Bewertung stützt und in der aus notwendigem Respekt schnell Angst werden kann.
„Erziehung muss ein Lebensraum sein“, sagt von Hentig, Schule solle „Erfahrung mit der Gesellschaft enthalten“. Diese Antwort auf den Vorwurf des Missbrauchs gegen seinen Kollegen und Freund stellt jemanden, der sich 40 Jahre lang der Reformpädagogik gewidmet hat, ein ziemlich trauriges Zeugnis aus. Gerade einem Lehrer muss bewusst sein, welche Position er innehat und dass seine Rolle ihm Macht verleiht. Die Gefahr, dem Schüler zu nahe zu treten, muss er einschätzen können und verhüten. Nicht der Schüler, denn er ist nicht in der Lage, Nein sagen zu können.
FRAUKE BÖGER
ist Volontärin im Inlandsressort der taz Foto: privat
CONTRA
Etwa 5 Prozent von über 700.000 Lehrkräften in Deutschland fügen ihren Schülerinnen und Schülern – durch Bloßstellungen oder Gemeinheiten – wiederholt psychische Verletzungen zu. So lautet das Ergebnis einer Schülerbefragung durch das Kriminologische Forschungsinstitut, Hannover. Weniger als 1 Prozent der Befragten berichten, dass sie von Lehrkräften wiederholt geschlagen wurden.
Seelische und körperliche Gewalt oder sexuelle Übergriffe durch Lehrkräfte sind abscheulich und durch nichts zu entschuldigen. Sie sind schlimm für die Betroffenen und belasten den gesamten Berufsstand. Aber es ist ein Irrtum zu glauben, dass der Machtmissbrauch im Lehrerberuf angelegt sei. Macht verführt. Aber wenn Lehrkräfte ihre Macht gegenüber Abhängigen missbrauchen und gewalttätig werden, sind das unverantwortliche und durch nichts zu entschuldigende Handlungen erwachsener Menschen, deren Berufsethos unterentwickelt ist. Die vielen hunderttausend Lehrerinnen und Lehrer, die nicht gewalttätig sind, zeigen, dass es anders geht. Mittlerweile erkennen die allermeisten Lehrkräfte an, dass sie gewaltfrei erziehen müssen.
Die Gewerkschaft GEW setzt sich für berufsethische Grundsätze ein, wie sie die Bildungsinternationale (BI) beschreibt. Dort heißt es: „Im Bildungswesen Beschäftigte (…) setzen sich für die Interessen und das Wohlergehen ihrer SchülerInnen/StudentInnen ein und bemühen sich nach Kräften, sie vor Drangsalierungen und physischem oder psychischem Missbrauch zu schützen, unternehmen alles, um ihre SchülerInnen/StudentInnen vor sexuellem Missbrauch zu schützen.“
Nein, im Lehrerberuf ist der Machtmissbrauch ebenso wenig angelegt wie bei Polizisten oder Ärzten. Dass so viele Kinder und Jugendliche in pädagogischen Einrichtungen misshandelt und missbraucht wurden, ist jedoch auch für uns als Gewerkschaft ein Weckruf. Er erinnert daran, dass sich die pädagogischen Professionen immer wieder intensiv mit ihren berufsethischen Grundsätzen und konsequent mit schwarzen Schafen in ihren Reihen auseinandersetzen müssen.
MARIANNE DEMMER
ist stellvertretende Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft GEW Foto: Polentz