: Proteste gegen die Sozialpolitik
POLEN Hunderttausend Demonstranten in Warschau fordern eine Änderung der Sozialpolitik. Doch die Regierung Tusk mokiert sich nur
AUS WARSCHAU GABRIELE LESSER
Über 100.000 Polen nahmen am Samstag in Warschau an einem Sternmarsch gegen die Sozialpolitik der liberal-konservativen Regierung teil. Aus ganz Polen reisten Krankenschwestern, Lehrer, Polizisten, Bahn- und Post-Bedienstete sowie Kohlebergarbeiter an, um gegen die Heraufsetzung des Rentenalters und die neuen flexiblen Arbeitszeiten zu protestieren. „Weg mit dieser Regierung!“, skandierten die einen, während die anderen riefen: „Brot! Wir fordern Brot!“
Für die drei größten Gewerkschaften im Land war der insgesamt viertägige Protest in Polens Hauptstadt ein großer Erfolg. „Wir fordern Tusks Rücktritt“, rief der Sprecher der einst berühmten Gewerkschaft Solidarnosc, Marek Lewandowski, den Versammelten zu. Dies sei „die einzige Möglichkeit, die Sozialpolitik in Polen zu ändern“. Andererseits beklagte er, dass die Regierung nicht zum Dialog bereit sei und es an gegenseitigem Vertrauen fehle. Auch Jan Guz, der Chef der Gewerkschaft OPZZ, hieb in diese Kerbe. Die Kundgebung sei das „letzte Alarmglöckchen“ für die Regierung. Solidarnosc-Chef Piotr Duda empörte sich lautstark: „Wir haben genug von der Verachtung der Machthabenden für die Welt der Arbeiter!“, und enthüllte ein Spottdenkmal auf Donald Tusk, das ihn in Leninpose mit emporgerecktem Arm zeigte.
Donald Tusk amüsierte sich über das goldglänzende Denkmal, antwortete aber lakonisch, dass er nicht wisse, mit wem er Gespräche aufnehmen solle, wenn die Bedingung für den Dialog sein eigener und der Rücktritt seiner Regierung sein solle.
Konkret fordern die Gewerkschaften ein gesetzliches Renteneintrittsalter von 65 statt 67 Jahren, die Abschaffung der flexiblen Arbeitszeit, die es Arbeitgebern erlaubt, bei einer Auftragsflaute die Belegschaft auf Kurzarbeit zu setzen und – wenn die Maschinen wieder laufen – so lange unbezahlte Überstunden einzufordern, bis das auflaufende Zeitpolster aufgebraucht ist. Zudem fordern die Gewerkschaften die Heraufsetzung des Mindestlohnes auf umgerechnet rund 450 Euro. In diesem Jahr beträgt er rund 400 Euro, im Jahr 2014 soll er auf 420 Euro steigen.
Warschau, mit über 1,7 Millionen Einwohnern die größte Stadt Polens, nahm die Demonstranten freundlich auf – zumal es an den drei vorherigen Protesttagen fast ununterbrochen geregnet hatte. So schlossen sich etliche Warschauer am Sonntag sogar dem Sternmarsch zum Schlossplatz an, vorbei am Sejm, dem polnischen Abgeordnetenhaus, und dem Präsidentenpalast in der Krakauer Vorstadtstraße. Auf der Abschlusskundgebung rief hier Piotr Duda zu einer Unterschriftenaktion zur Auflösung des Parlaments auf. Ein unrealistisches Ziel, denn auch wenn einige Abgeordnete die Regierungspartei Bürgerplattform verlassen haben, so hat doch niemand Interesse daran, zwei Jahre vor den nächsten Parlamentswahlen im Jahr 2015 sein Mandat niederzulegen. Nicht einmal Polens Staatspräsident Bronislaw Komorowski, der sich mit einem Monatsgehalt von umgerechnet rund 5.000 Euro ebenfalls zu den Geringverdienern in Europa rechnet, würde den Sejm auflösen.
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