: Land des Klassenkampfs
In Frankreich fehlt seit langem eine Kultur des politischen Dialogs. Deshalb eskalieren zwangsläufig gesellschaftliche und soziale Konflikte – und enden in einer Systemkrise
„Die jungen Demonstranten wissen oder fühlen, dass es hier einfach um ihr Leben geht; mit ihrer Revolte wollen sie sich dieser Autorität entziehen, um ihr Leben einfach lebenswerter zu machen.“
Als Herbert Marcuse diese Sätze 1969 mit klarem Blick auf die Anti-Vietnamkrieg-Kampagne an den amerikanischen Campus-Universitäten und die Studentenrevolte in Westeuropa niederschrieb, konnte er natürlich nicht ahnen, dass heute in Frankreich der Schüler- und Studentenprotest erneut ein derartiges Ausmaß annehmen würde. So mancher Beobachter ist ja schon versucht, von einem „neuen Pariser Mai“ zu sprechen.
Gewiss, die Symptome scheinen dafür zu sprechen: Barrikaden an der Sorbonne, Knüppel-Einsätze der Bereitschaftspolizei, hunderte von Verhaftungen, dutzende von Verletzten, 50 von insgesamt 84 Universitäten bestreikt und von den Studenten so verbarrikadiert, dass Lehrveranstaltungen unmöglich sind. Hinzu kommen die täglichen Meetings, auf denen über jeden konkreten Vorschlag demokratisch abgestimmt wird, Aufrufe zu Streik und Generalstreik, brennende Autos, besetzte Straßen und Bahnhöfe.
Dennoch gibt es eine Reihe von Indizien, die dazu mahnen, diesen Vergleich nicht allzu weit zu treiben. Da ist zum einen die relative Zurückhaltung der Gewerkschaften, die sich trotz aller Solidaritätserklärungen bislang noch nicht dazu durchringen konnten, wie 1968 den unbefristeten Generalstreik auszurufen. In den Betrieben wird zwar über die Revolte der Studenten diskutiert, eine Tendenz zur massiven Arbeitsniederlegung oder gar Besetzung der Fabriken ist jedoch bislang nicht zu erkennen. „Etudiants – Travailleurs – même combat!“ Das war die Losung im Mai 1968, der ja weitgehend von der Utopie einer alternativen repressionsfreien Gesellschaft inspiriert war.
Im Vergleich dazu macht die heutige Studentenbewegung einen weniger radikalen und pragmatischeren Eindruck. Ihr geht es in erster Linie um die durch die Globalisierung gefährdete Sicherung der eigenen Zukunft. Die Studenten, die da streiken, wissen nur zu gut: In einem Land, das nach wie vor auf ein Elitesystem setzt und zentralistisch regiert wird, haben sie keinerlei Chance, mit ihren Abschlüssen einen halbwegs vernünftigen Arbeitsplatz zu bekommen. Den bekommen nämlich vorzugsweise nur die Absolventen der „Grandes Ecoles“.
Wozu also noch studieren, wenn man mit einer „Licence“ (nach 3 Studienjahren) gerade noch hoffen kann, einen Platz als KassiererIn in einem Supermarkt zu bekommen? Und dies in einer Situation, in der Frankreich im Begriff ist, auch noch eine große Zahl von hochqualifizierten Wissenschaftlern und Professoren ans Ausland zu verlieren, einfach deshalb, weil sie hierzulande so schlecht bezahlt werden, dass sie der Verlockung nicht widerstehen können, in die USA abzuwandern.
Das Festhalten am traditionellen Elitesystem ist ein Hauptgrund für die sich verschlechternde Situation der französischen Universitäten, die sich auch darin ausdrückt, dass Frankreich im Durchschnitt für einen Studenten weniger ausgibt als für einen Gymnasiasten. Die Auslese für die Eliteschulen beginnt jedoch bereits in der letzten Stufe des Gymnasiums. Und die Universitäten werden dadurch automatisch zu Institutionen zur Ausbildung der „weniger Begabten“ degradiert und dementsprechend schlecht mit Mitteln ausgestattet. Langfristig könnte dies sogar die Existenz der Universitäten gefährden.
Die Bevölkerung gibt laut Meinungsumfragen zu 60 Prozent den demonstrierenden Studenten Recht, die sich mit Händen und Füßen gegen die „Wegwerf-Jobs“ sträuben, die ihnen Premierminister Dominique de Villepin mit der Macht des Gesetzes und der Institutionen aufzwingen will. Zumal der Premier nicht nur den Dialog mit den Studenten und Jugendlichen versäumt hat, sondern auch in seiner eigenen Partei. In der neo-gaullistischen UMP ist er umstrittener denn je und isoliert. Staatspräsident Chirac hat sich zwar noch einmal schützend vor de Villepin gestellt, aber das strittige Gesetz nur mit Einschränkungen akzeptiert.
All dies zeigt, wie tief inzwischen die innenpolitischen Gräben aufgerissen wurden. Ursächlich hängt die gegenwärtige politische und soziale Krise in Frankreich damit zusammen, dass es in diesem Lande noch nie so etwas wie eine politische Dialogkultur gegeben hat. So gab es zwar im Mai 68 ein Abkommen zwischen Regierung und Gewerkschaften und Arbeitgebern, mit dem der Generalstreik und die Fabrikbesetzungen beendet wurden, aber Frankreich wurde dennoch kein Land der „konzertierten Aktion“ wie Deutschland. Es ist und bleibt das Land des Klassenkampfs, das Land, in dem Unternehmer und „Unternommene“ (Ernst Bloch) nicht richtig miteinander reden können. Das hat seine tiefen Wurzeln in der französischen Sozialgeschichte von der Französischen Revolution bis zur Volksfront (1936–1937).
Der Ausgang des aktuellen Konflikts ist noch ungewiss. Sicher ist jedoch: der Kampf zwischen Regierung und Studenten hat die bürgerliche Regierung spürbar erschüttert und Premier de Villepin schwer beschädigt. Seine Präsidentschaftsambitionen scheinen in weite Ferne gerückt. Im Gegenzug könnte das einem sozialistischen Präsidentschaftskandidaten nutzen. Dazu jedoch müssten die Sozialisten erst einmal ihren innerparteilichen Streit überwinden und sich auf einen Kandidaten einigen.
Neben den unmittelbaren politischen Auswirkungen ist aber auch das System der parlamentarischen Demokratie insgesamt unter einen so nie gekannten Legitimationsdruck geraten. Riesengroß ist die Kluft zwischen den Etablierten da oben und den „exclus“ da unten, zwischen der erstarrten Kaste der regierenden überprivilegierten Berufspolitiker und der breiten Masse der „einfachen Leute“, der Arbeiter, Studenten und Schüler. Dieser Antagonismus der „deux France“ ist eine Art von sozialem Dampfkessel, der immer wieder explodiert.
Die Ursache für die Bürgerferne der Herrschenden einerseits und die Protestwut der Basis andererseits ist darin zu suchen, dass die gaullistische Verfassung von 1958 die Rechte des Parlaments gegenüber der Exekutive erheblich eingeschränkt und den Präsidenten gewaltig gestärkt hat. Darin sehen kritische Politikwissenschaftler eine „monarchische Regression“ der Demokratie. Sie verstärkt das unüberwindbare Misstrauen der kritischer werdenden Bevölkerung und verhindert eine halbwegs effiziente Kultur des Dialogs in Frankreich. In diesem gesellschaftlichen Klima eskalieren regelmäßig Konflikte in vorbürgerkriegsartige Auseinandersetzungen.
Immer lauter wird daher in Frankreich die Forderung nach einer „partizipativen Demokratie“. Sollte sich die Regierung weiterhin gegenüber dieser außerparlamentarischen Forderung taub stellen, kann die gegenwärtige Regimekrise sich bald sogar noch zu einer Systemkrise ausweiten. ARNO MÜNSTER