: Kein Gefühl von Welt
Das unerreichte Vorbild ist der italienische Neorealismus: Im Omnibusfilm „Alle Kinder dieser Welt“, zu dem namhafte Regisseure wie Spike Lee, Emir Kusturica und Ridley Scott Episoden beigesteuert haben, geht es um Kinderarmut und -elend
VON BARBARA SCHWEIZERHOF
Es gibt Ideen, die sind einfach zu gut. Zum Beispiel die, namhafte Regisseure dieser Welt dazu zu bringen, bei einem Filmprojekt mitzumachen, das die Not der Kinder dieser Welt anklagt. Der englische Originaltitel „All the Invisible Children“ drückt aus, worum es geht: Die „unsichtbaren“ Kinder sollen in den Blick der Öffentlichkeit gerückt werden, auf dass diese etwas tut zur Verbesserung der Lage, mindestens aber Geld spendet an Unicef und weitere Institutionen, an die der Wohlstandsbürger die Verbesserung der Welt delegiert. Was die Initianten nicht berücksichtigt haben – sie sind wohl einfach zu gutherzig für solche Doppeldeutigkeiten –, ist die Tatsache, dass eben dieser Wohlstandsbürger ein zwiespältiges Verhältnis zu den „unsichtbaren“ Kindern unterhält. Meist ist er von klein auf mit ihrem Beispiel zu Wohlverhalten ermahnt worden, hat aufgegessen, weil sie hungern, sich demonstrativ über Dinge gefreut, die sie nie haben werden. „Unsichtbar“ ist das Kinderelend nicht aus Mangel an Wissen, sondern weil es verdrängt wird.
Um gegen diese hartnäckige Verdrängung anzugehen, die eben auch eine Abwehr gegen Gefühlsmanipulation ist, müsste man allerdings noch eine bessere Idee haben als die, sieben Filmemacher einen Kurzfilm drehen zu lassen. Denn das Erstaunliche an diesem „Omnibusfilm“ ist: Kaum eine der Geschichten bleibt im Gedächtnis haften. Gäbe es nicht die Möglichkeit, die einzelnen Teile auf die Handschrift so großer Namen wie Ridley Scott, Spike Lee, John Woo und Emir Kusturica hin zu untersuchen, würden die angeschnittenen Themen augenblicklich wieder vergessen.
Auflage für alle sieben war es, eine Geschichte im eigenen Heimatland zu drehen. Entstanden ist daraus aber kein Gefühl von Welt, sondern eine Liste bekannter Elendsthemen: „Tanza“ des algerischen Schriftstellers und Regisseurs Mehdi Charef beschäftigt sich mit Kindersoldaten. Seine Darstellung von Kindern mit Waffen in der Wildnis ist so wildromantisch wie traurig und lässt einen vorhersehbar ratlos zurück. In Emir Kusturicas Beitrag „Blue Gypsy“ geht es um Kinderkriminalität: Der kleine Uros wird aus der Jugendstrafanstalt in die Freiheit entlassen, was für ihn bedeutet: in die Sklaverei, denn er muss für die Bande seines Onkels anschaffen. Der serbische Regisseur verleiht seinem Film den typischen Kusturica-Touch, der von der Subtilität eines Paukenschlags ist. Wen die skurrile Üppigkeit schon länger nervt, muss hier fest Augen und Ohren verschließen, die anderen können den immerhin konsequent unsentimentalen Umgang mit dem Thema genießen.
Bei Stefano Venerusos Film „Ciro“, der zwei kleine Diebe porträtiert, wird deutlich, dass das große und unerreichte Vorbild dieses cineastischen Engagements der italienische Neorealismus bleibt. Tatsächlich gelingt der Brasilianerin Katia Lund in ihrem Beitrag „Bilu und João“ eine Art Hommage an den Zauber dieser Filme: Sie folgt zwei Kindern beim „Wertstoffsammeln“ in der Großstadt. Das Straßenleben mit seinen wechselnden Sphären und Stimmungen wird durch die Augen der hilflosen, aber sich durchschlagenden Kinder betrachtet. Manchmal überschreitet Lund dabei mit ihren heißen Umschwüngen von unverdientem Unglück zum kleinen gehüteten Glück die Grenze zur Armutsromantik.
Spike Lee unterläuft das nicht. In „Jesus Children of America“ geht es um Blanca, eine hübsche, intelligente 12-Jährige von auffallender Fragilität. Behutsam, als hätte er 90 statt nur zehn Minuten Zeit, zeigt Lee Blanca beim Zickenkampf in der Schule und dann zu Hause bei den Eltern. Beide sind Junkies, trotzdem versuchen sie einen prekären Alltag des Behütetseins für ihre Tochter aufrechtzuerhalten. Bevor Blanca es erfährt, hat der Zuschauer längst begriffen: Alle drei sind HIV-positiv. Wie das Mädchen dieser Tatsache schließlich ins Auge blickt, das gehört zu den nicht so leicht zu vergessenden Momenten des Films.
Ridley Scotts Beitrag „Jonathan“, den er zusammen mit seiner Tochter Jordan Scott realisiert hat, bleibt dagegen nur deshalb im Gedächtnis, weil er von einem Erwachsenen handelt: Ein Photoreporter erinnert sich an erlebte Kriegszeiten. Und John Woos „Song song and Little Cat“ schließlich illustriert nach allen Regeln des Melodramas den Gegensatz von Armut der Mittel und Armut der Gefühle: Ein kleines Mädchen wird von einem Obdachlosen gefunden und liebevoll aufgezogen, parallel dazu sieht man das poor little rich girl, dessen Eltern zu sehr mit sich selbst beschäftigt sind. Da schaut es dann unglücklich aus dem Autofenster, das reiche Mädchen, und wird vom Lächeln des armen Mädchens getröstet. Oder ist das wieder die Urszene der Wohlstandserziehung: Sei froh an dem, was du hast?
„Alle Kinder dieser Welt“. Regie: John Woo, Spike Lee, Emir Kusturica u. a. Mit Damaris Edwards, Hannah Hodson u. a., Frankreich/Italien 2005, 116 Min.