Frohe Botschaft!

Die Strukturprobleme einer Gesellschaft sind primär ökonomisch und organisatorisch bedingt. Es gibt kein Nachwuchsproblem. Allen demographischen Krisenmeldungen zum Trotz: Die Lage ist besser als die Stimmung. Nachrichten aus einem guten Land

VON RICHARD WAGNER

Lehrer für Altgriechisch sind schwer zu finden, das mag verständlich sein, aber wieso sucht ein Flugzeugbauer händeringend nach Ingenieuren, trotz fünf Millionen Menschen ohne Arbeit?

Soeben wurde vom Apokalypse-Rat das Thema Kinderlosigkeit ausgerufen: Wir sterben aus, heißt es. Die Frage war schon einmal so prominent auf der Tagesordnung, dass sogar Günter Grass eine Erzählung beisteuerte. Sie trägt den Titel „Kopfgeburten oder Die Deutschen sterben aus“. Das war vor 25 Jahren. Die Deutschen aber gibt es immer noch. Und ihre Kopfgeburten auch.

Die öffentlichen Debatten zeigen nur Sackgassen auf, und das bei gleichzeitigem Spitzenplatz in der globalen Wirtschaftsleistung und dem größten Sparaufkommen weltweit. Noch, denn unsere Innovationsfähigkeit nimmt ab. Zu viele von uns sind mit der Verwaltung der Probleme beschäftigt und zu wenige mit ihrer Überwindung. So schafft jeder neue Angestellte der Bundesagentur für Arbeit weitere Arbeitslose, da er von Steuergeldern bezahlt wird, die in Ausbildung und Grundlagenforschung fehlen. Die Hauptaufgabe der Behörde ist die bloße Interpretation der Arbeitslosenzahlen, sie ist Teil der Image-Industrie. Die Administration ist aufgebläht. Ihr Adressat ist nicht der mündige Bürger, sondern der verwaltete Mensch. Wollen wir aus diesem Dilemma herauskommen, ist dringend eine Befreiung der Arbeit nötig. Das verlangt eine neue Sicht auf ein großes Thema der Moderne, von Seiten des Staates, aber auch der Gesellschaft. Statt neue Geldquellen zu suchen, sollten wir endlich die Staatsausgaben reduzieren. Nur wenn wir den korsettförmigen Teil der Gesetzgebung streichen, kann die Arbeit wieder zu sich selbst finden, zu ihrem kreativen Ursprung. Zur Hölle mit dem Flächentarifvertrag, mit ihm kann sich regionale Konkurrenz niemals entfalten. Nur der Unterschied ist produktiv.

Der reichste Mann der USA ist Bill Gates, als reichster Deutscher gilt Karl Albrecht, Inhaber von Aldi Süd. Dort High-Tech, hier der Supermarkt, sollte das der tiefere Unterschied zwischen Deutschland und den USA sein? Zu den paradoxen Gegebenheiten zählt, dass bei höchster Sparquote die Kaufkraft fehlt. Die Konsumverweigerung ist eine Haupteigenschaft des Hysterikers, aber auch des klassischen Spießers. Das Rathaus von Schilda und die Kommandozentrale der Utopie liegen dicht beieinander. Die Zahl der Selbstständigen, also derer, die ihren Arsch allein hochkriegen, ist in Deutschland gering. Che ist, entgegen aller Annahmen, einer von uns, seit er für eine Autovermietung wirbt. Wer aber sind wir?

Der Protektionismus, nach dem jetzt wieder häufiger gerufen wird, kann nur kurzfristig Abhilfe schaffen. Im weltweiten Wettbewerb nützt die Konkurrenzfähigkeit, und das bedeutet nicht nur, besser zu sein, sondern auch originell. Man muss nicht alles können, man muss etwas können, was andere nicht können. Nutzen wir das riesige Potenzial, das in den Köpfen einer Bevölkerung von 80 Millionen Menschen steckt, Einheimische und Einwanderer, endlich jenseits der Ratschläge von Beratungsfirmen und Strategien der Werbeagenturen. Die propagierten Altersbeschränkungen bei der Auswahl der Mitarbeiter in Unternehmen sind eine maximale Dummheit. Die Wirtschaft betrügt sich damit um das Wissen und die Erfahrungen älterer Menschen. Interessant ist, dass es überall Alterslimits gibt, außer in den Chefetagen und Parteispitzen. Mit anderen Worten: Jene, die die Älteren ausgrenzen, sind ihre Altersgenossen. Man spricht vom Generationenvertrag, dabei geht es um den Bankrott der Sozialkassen. Anstatt sich der Reform dieser Kassen, nämlich ihrer Abkoppelung von den Lohnnebenkosten und der Zerschlagung ihres Verwaltungswasserkopfs zuzuwenden, pflegt man die Schuldzuweisung. Einen vorläufigen Höhepunkt hat das durch die demographische Debatte erreicht. Die Strukturprobleme einer Gesellschaft hängen aber mit dem demographischen Faktor nur lose zusammen. Sie sind primär ökonomisch und organisatorisch bedingt. Keine demographische Gegebenheit ist ein Hindernis für das ökonomische Gleichgewicht einer Gesellschaft. Vielmehr kommt es darauf an, die vorhandenen Ressourcen zu nutzen und sie optimal zu verwerten. Man muss von dem ausgehen, was ist. Unsere Gesellschaft hat nicht ein Nachwuchsproblem, sondern eine Beschäftigungskrise. Aus mehr Kindern können noch mehr Arbeitslose werden. Wenn es aber so sein sollte, das manche Männer in Deutschland die Frau wieder mehr zur Kinderbetreuung abstellen, das heißt in den Hausfrauenstand zurückversetzen möchten, so ist das für das Fortkommen der Gesellschaft prekär. Es würde uns auch ökonomisch zurückwerfen, würden wir doch damit auf die Ressourcen, auf die Leistungsfähigkeit der Hälfte der Bevölkerung verzichten. Das eine solche Fragestellung überhaupt aufkommt, deutet vor allem auf die Krise eines antiquierten Männerkonzepts hin. Vielleicht sollten wir uns nicht nur mit dem offensichtlich falsch gepolten islamischen Mann auseinander setzen sondern auch den frustrierten deutschen Möchtegernpatriarchen ins Auge fassen. Wenn diese Männer meinen, der Konkurrenz der Frauen nicht mehr gewachsen zu sein, sollten sie zu Hause bleiben, für Kind und Katze sorgen und den Wintergarten pflegen, während im Gegenzug die Karrierefrau das Geld ranschafft.

Der neuerliche Rückgriff auf die Familie ist ein Angriff auf die Urbanität, weil er die Leistungsfähigkeit wieder geschlechtsspezifisch anstatt individuell betrachtet, wie es einer liberalen Gesellschaft angemessen wäre. Nicht jede Frau möchte eine Maria sein, aber auch nicht jeder Maria wird ein Jesus beschert.

Die höchsten Kosten für den Sozialstaat werden nicht durch Singles verursacht, sondern von den Familien, den gescheiterten und den stinknormalen. Eine Million Kinder leben in Deutschland von Sozialhilfe. Es soll aber auch Familien geben, die vom Kindergeld leben. Darüber gibt es, aus Gründen der politischen Korrektheit, keine Statistik.

Kurz nachdem er aufs T-Shirt gekommen war, hat Jesus, wie wir wissen, seine Guerilla-Tätigkeit aufgegeben. Er hat sich in die Casting-Show begeben. Wo alle Welt Millionär werden will, gibt es aber auch zahlreiche Tellerwäscher. Tellerwaschen ist angesagt. Du bist Deutschland, die Dienstleistungsgesellschaft wartet auf dich.

Mach etwas aus dir!

Fotohinweis: RICHARD WAGNER, geboren 1952 im rumänischen Banat, arbeitete als Deutschlehrer und Journalist und veröffentlichte Lyrik und Prosa in deutscher Sprache. Nach Arbeits- und Publikationsverbot verließ er Rumänien im Jahr 1987 und lebt seitdem als freier Schriftsteller in Berlin. Er gewann zahlreiche Preise und Stipendien. Zuletzt ist von ihm „Der deutsche Horizont. Vom Schicksal eines guten Landes“ (Aufbau Verlag 2005) erschienen.