: Schwerter, Steine, Herzrasen
REVOLTEN Was tut man an der Uni? Kämpfen, Revolution machen und Tabus brechen. Unser Autor hat das in Marokko erlebt, wo der Campus ein religions- und staatsfreier Raum war. Manchmal wurde auch scharf geschossen
■ Gegen die Militärs: In Griechenland hat die studentische Bewegung eine lange Tradition. Mit den Studentendemos vom 17. November 1973 begannen die Unruhen, die zum Sturz der Militärdiktatur führten. Das bestreiten nicht einmal offizielle Stellen. Vielleicht genossen StudentInnen deshalb jahrzehntelang einen gewissen Freiraum.
■ Gegen Privatunis: Die Situation spitzte sich zu, als 2006 das neue Hochschulgesetz diskutiert wurde, das unter anderem die Einführung von Privatuniversitäten vorsah. In Athen waren die Ausschreitungen am heftigsten und dauerten am längsten. Aus Solidarität mit den Studierenden streikten auch Gewerkschaften. 2008 kam es zu Ausschreitungen, als ein 15-Jähriger durch die Polizei getötet wurde. 2009 und 2010 protestierten viele Studenten gegen die Regierungspläne zum Abbau von Sozialleistungen.
VON KHALID EL KAOUTIT
Die rund 300 Kölner Studentinnen und Studenten waren gut frisiert, gut gekleidet und gut gelaunt. Sie bildeten den ersten Protestzug, den ich 2002 in Deutschland erlebt habe und der sich gemächlich, ja leidenschaftslos vor sich hin bewegte. An der Spitze brüllte ein Student in sein Megafon Parolen, die manche der Protestierenden hinter ihm wiederholten. Nur wenige schienen dabei ihre Stimmbänder wirklich anzustrengen. Viele beschränkten die Teilnahme aufs Mitlaufen und unterhielten sich dabei mit ihren Freunden. Und wenn der Zug gerade nicht weitergehen wollte oder konnte, dann schrie der mit dem Megafon: „Hinsetzen, hinsetzen!“, und plötzlich saßen alle auf dem Boden.
Zu meinem Erstaunen gab es sogar Demonstranten, die freundlich lachend ein paar Worte mit den Polizeibeamten wechselten, die den Protestzug begleiteten und ihn tatsächlich zu lenken schienen. Das Wort „Spaß“, das ich nur wenige Tage vor diesem Protest im Deutschkurs gelernt hatte, wurde für mich konkret. Dass sich dies in einem Protestzug ereignen würde, hätte ich nie gedacht. Steinewerfen, Knüppelschläge und Herzrasen – das sind meine Erinnerungen an Proteste, denn so habe ich es während meines Studiums in Marokko erlebt.
Auch den Raum „Universität“ habe ich in Marokko anders wahrgenommen. Er war der einzige Ort, an dem das Volk und nicht der Staat den Verhaltenskodex vorschrieb und wo folglich ganz andere Regeln als im Rest der Gesellschaft herrschten. Was in der Gesellschaft auch nur ansatzweise völlig unmöglich wäre, war an der Uni Alltag: die Monarchie und Gott infrage zu stellen, soziale Ungerechtigkeit zu thematisieren, Demokratie zu fordern, ja den Arbeiter-und-Bauern-Staat als offene und einzige Alternative zum herrschenden Regime zu sehen und die Gewaltanwendung als alleinigen Weg dorthin. Es wurde jedoch nicht nur von der Revolution gesprochen. Sie wurde gelebt. So waren Beziehungen zwischen Mann und Frau außerhalb einer Ehe genauso normal wie das Essen während des Fastenmonats Ramadan. Was im Rest der Gesellschaft tabu war, konnten wir uns an der Universität erlauben.
Das Verhältnis zwischen Staatsgewalt und dem freien Raum Universität markierte in erster Linie die Architektur der Universitäten in Marokko. Große Gebäudekomplexe, meist ehemalige Militäranlagen und möglichst weit vom Stadtzentrum abgelegen. Bei den Unis, die in den Achtziger- und Neunzigerjahren gebaut wurden, verzichtete man bewusst auf einen zentralen Campus und trennte die verschiedenen Fakultäten voneinander, die ebenso möglichst weit von den Städten entfernt und jeweils in einer anderen Himmelsrichtung gelegen waren. Durch diese räumliche Trennung wollte der Staat die studentische Bewegung schwächen, die, wie die Aktivisten dieser Bewegung selbst zu sagen pflegten, ein „rostiges Schwert im Herzen des Regimes“ war. Nur auf dem Campus war der Staat machtlos.
Denn bereits in den frühen Fünfzigern, als sich breite Schichten der marokkanischen Gesellschaft für den Kampf gegen die Besetzung durch Frankreich und Spanien einten, stellten Studenten eine besonders kritische Stimme dar. Es ging nicht nur darum, dass die Besatzer das Land verlassen sollten. Der jungen Intelligenzia, die aus den mittleren und unteren Gesellschaftsschichten stammte, ging es um den Aufbau eines gerechten, sozialen und unabhängigen Staates. Diese Forderung wurde noch stärker, als Marokko 1956 seine Unabhängigkeit erhielt und klar wurde, dass der neue Staat weder demokratisch noch gerecht oder sozial werden würde.
Der „Kampf“ veränderte sich, denn der Feind war nicht mehr Franzose oder Spanier. Er war „einer von uns“. Die pseudoparlamentarische Monarchie.
An diesem Kampf war ich während meines Studiums in der Stadt Fes beteiligt, einer der traditionellen Festungen der Studentenbewegung in Marokko. Das Studium an sich war nur Nebensache. Gelernt habe ich immer maximal drei Wochen vor den Klausuren. Andere haben nie ein Lehrbuch angerührt. Drei intensive Jahre Mitte der Neunziger waren das. Voller Erlebnisse und doch wie im Fluge vergangen. Abwechselnd auf dem Campus und in unseren engen Wohnräumen verbrachte ich mit meinen Genossen alle Stunden des Tages. Es war der harte Kern der kommunistisch orientierten Gruppe in der Uni. Eine extrem merkwürdige Mischung von Menschen. So eine, die nur das gemeinsame politische Interesse möglich machen kann. Mit vielen dieser Genossen hätte ich unter anderen Umständen nie ein Wort gewechselt. Sie auch nicht mit mir. Vielleicht deshalb sind im Laufe dieser Jahre kaum Freundschaften entstanden.
Zielsichere Bauernkinder
Manche von uns stammten aus der Stadt, die anderen vom Land. Die Bauernkinder hatten zwar kaum Geld, versorgten die Gemeinschaft aber mit Oliven, Olivenöl und Brot oder Hülsenfrüchten. Bei Schlachten gegen die Staatsgewalt oder die Islamisten standen sie immer in den vorderen Reihen. Marokkanische Bauernkinder sind Weltmeister im Steinewerfen. Die meisten haben schon einmal eine Ziege mit einem Steinwurf zur Herde zurückgeholt.
■ Gegen den Schah: Ihren Höhepunkt erreichte die studentische Bewegung im Iran 1979. Kommunisten, Sozialisten und Islamisten kämpften Seite an Seite gegen den Schah und sein Regime. Die Enttäuschung war aber groß, als Chomeini die neue Republik für islamistisch erklärte und jeden Freigeist zum Schweigen bringen wollte. Es folgten Auseinandersetzungen, die mit der Schließung von Unis und der Verhaftung, Folter und Ermordung von StudentInnen und Lehrkräften endeten.
■ Gegen die Mullahs: Erst 1982 durften iranische Studenten den Campus wieder betreten. Es kam immer wieder zu Demos, vor allem in Teheran. Im Sommer 2009 erreichten die Proteste eine blutige Phase: Nach den Wahlen entstand die sogenannte Grüne Bewegung – ihren Anfang nahm sie auf dem Campus in Teheran.
Dass solche Bürger überhaupt an die Universität kommen konnten, liegt vor allem an der allgemeinen Schulpflicht. Dadurch hatten Kinder aus armen Schichten die Möglichkeit, zur Schule zu gehen und später zu studieren. In der Hoffnung, eine Beamtenlaufbahn einzuschlagen, oder einfach wegen der Perspektivlosigkeit auf dem Arbeitsmarkt. Der zweite Grund hat dazu geführt, dass viele die Universität nicht verlassen konnten oder mochten. Zudem hatte die Bewegung bereits in früheren Jahren durchgesetzt, dass jeder Student ein Stipendium bekommt, solange er eingeschrieben ist. Auch wenn der Staat dies später wieder einschränkte und Stipendien an Leistungen koppelte, wurde dadurch der Beruf „studentischer Aktivist“ geboren und die Uni folglich zu einer Festung, in die der Staat nicht einbrechen konnte, ohne blutige Auseinandersetzungen zu riskieren.
Doch die Proteste sollten nur innerhalb der Mauer bleiben. Es war wie ein unausgesprochener Kompromiss zwischen Staat und studentischer Bewegung. Die paar Male, wenn Studenten in den Städten demonstriert hatten, wurde scharf geschossen. Innerhalb der Campusmauern dagegen sah sich der Staat gezwungen, der Bewegung den Freiraum zu gewähren, den sie brauchte. Außerhalb dieses Raums wurde jede Art von politischem Aktivismus, der nicht regimekonform war, mit Härte zurückgeschlagen. So blieb Menschen wie mir, die die Welt verändern wollten, nur die Uni.
Doch die Welt zu verändern ist keine leichte Sache, und es geschieht nicht ohne Opfergabe. Mindestens fünf Menschen auf zwölf Quadratmeter Wohnfläche. So haben wir gelebt. Nachts haben wir uns einfach nebeneinander zum Schlafen gelegt. Privatsphäre war für mich damals ein Fremdwort und die Möglichkeit, sich zurückzuziehen, ausgeschlossen. Peinliche Situationen gab es höchstens, wenn plötzlich einer nachts mit einem Kissen zwischen den Beinen, Schweiß auf der Stirn und nasser Hose aufwachte, und feststellte, dass mehrere lachende Augenpaare ihn anstarrten.
Ein weiterer Tabubruch war es, dass auch Frauen dabei waren und Wohnräume mit uns geteilt haben. Zum Glück des Betroffenen war keine beim Sex mit dem Kissen anwesend. Vor allem jene von uns, die aus konservativen Familien kamen, lernten erst in dieser Zeit, dass Frauen nicht weniger können als Männer und dass sie imstande sind, die materialistische Dialektik so gut, wenn nicht besser als ihre Genossen zu begreifen und auf dem Campus wiederzugeben. Auch beim Steinewerfen waren sie nicht schlechter. Das hat viele so beeindruckt, dass die Zahl der Mitläufer mit der Zahl der Frauen unter uns stark korrelierte. Doch der erste Steinwurf reduzierte jedes Mal wieder die Zahl der Mitläufer.
Islamistische Handwerker
Konfrontationen mit der Polizei kamen oft vor. Meist wenn sie einen von uns festnehmen oder wenn sie in den Campus eindringen wollten. In diesem Fall wurde nicht diskutiert, stattdessen gingen die Scheiben der Streifenwagen zu Bruch. Der Campus musste frei bleiben. Das war eine der Hauptaufgaben der Bewegung in den Neunzigerjahren, als die Islamisten vermehrt die Universitäten angriffen, um dem Gesetz Gottes wieder Geltung zu verschaffen.
Verglichen mit den Schlachten mit der Staatsgewalt, die meist damit endeten, dass sich die Polizei an die Grenzen des Campus zurückzog, waren die Schlachten mit den Islamisten weit gefährlicher und gewalttätiger. Mindestens zweimal im Jahr überfielen sie den Campus. Kaum Studenten. Handwerker, Arbeitslose oder andere Söldner waren unter ihnen – mit Schwertern und Macheten bewaffnet.
■ Gegen das Establishment: Die studentischen Proteste waren in der Türkei damals genauso bedeutend wie die in Deutschland oder Frankreich. Der Staat ging jedoch viel härter gegen die StudentInnen vor. Als Ergebnis wurde die Bewegung dort in den Siebzigern immer radikaler. Es war die studentische Bewegung, die es geschafft hat, die linke Szene in der Türkei nach jedem Militärputsch wiederzubeleben.
■ Für die Kurden: Die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) hatte ihre Keimzelle auf dem Campus in Ankara, wo Abdullah Öcalan studiert hatte und die Partei mit seinen Weggefährten 1978 gründete. Sechs Jahre später begann die heute auch in Deutschland verbotene Partei den Guerillakampf zur Befreiung von Kurdistan. 2004 kam es vor allem in Ankara zu Ausschreitungen, als die Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan den Hochschulzugang für Absolventen der Predigerschulen lockern wollte. Auch heute noch demonstrieren Studenten auf dem Campus für mehr Demokratie an Hochschulen oder wegen allgemeiner gesellschaftlicher Probleme. 2009 ist es türkischen Studenten gelungen, eine Erhöhung der Studiengebühren zu verhindern.
Wenn ich an diese Tage denke, bekomme ich heute noch eine Gänsehaut. Zwei Gruppen stehen gegeneinander. Zunächst werden Steine geworfen, und zwar von der Gruppe, die gerade über Steine verfügt. Die andere Gruppe zieht sich zurück, bis die erste keine Steine mehr hat. Dieselben Steine fliegen dann in die andere Richtung zurück. Und so weiter, bis eine Gruppe an Raum verliert und sich weit zurückdrängen lässt. Die Schlachten tobten in einer zweispurigen Straße mitten auf dem Campus, die Fakultätsgebäude von Studentenheim und Mensa trennte. Hatten wir es geschafft, die Eindringlinge bis an die Campusgrenze zu vertreiben, wo die Polizisten standen, dann bekamen wir es mit diesen zu tun.
Nicht selten endeten diese Schlachten mit schweren Verletzungen. Und Anfang der Neunziger, als die Bewegung noch relativ stark war, sogar mit dem Tod von Kommilitonen. Die Überfälle der Islamisten haben die studentische Bewegung in Marokko nachhaltig beeinträchtigt. Spätestens Ende der Neunziger bekamen unsere Gegner mehr Raum im Campus und fingen an, im Namen der studentischen Bewegung zu sprechen. Es war der Anfang vom Ende des „rostigen Schwertes im Herzen des Regimes“. Die Uni ist seitdem ein Ort zum Studieren. Proteste finden nur vereinzelt statt, und wenn, dann geht es meistens um Prüfungsordnung, Mensaessen oder unfaire Klausuren.
Nach einigen Jahren Aufenthalt in Deutschland bin auch ich bei einem studentischen Protest mitmarschiert. Gegen die Studiengebühren. Ich habe die Parolen aus dem Megafon gehört und sie, so laut ich gerade wollte, wiederholt. Ich habe mich hingesetzt, als alle sich hingesetzt haben. Als der Protest zu Ende war, bin ich allein nach Hause gegangen. Ich verspürte zu keinem Zeitpunkt das Angstgefühl, das mich während meiner Studienzeit in Marokko begleitet hatte. Denn im Gegensatz zu dort herrschen hier für alle dieselben Regeln. Es herrscht Demokratie.
■ Khalid El Kaoutit, 34, ist freier Journalist und versucht sich gerade in Berlin einzuleben