: Ausbreitung des Tänzer-Gens
Der Kongress „Wissen in Bewegung“ startete programmatisch treffsicher als brummende Diskurstauschbörse
22.30 Uhr, auf dem Schwarzmarkt für nützliches Wissen und Nichtwissen. Das Paar an Tisch 10 redet über die Entdeckung eines Tänzer-Gens, die Techniken des Body-Mind-Centering und die Bedeutung der Bewegung im Paarungsverhalten von Fruchtfliegen – das Männchen, das am besten tanzen kann, wird gewählt. 22.45 Uhr. An Tisch 25 ist man sich nicht einig über den Wahrheitsgehalt von Liebesszenen.
Mit einem Paar Kopfhörern und einem kleinen Mehrkanalradio konnten sich die Besucher bei der Eröffnung des Tanzkongresses „Wissen in Bewegung“ in verschiedene Gespräche an den 39 Tischen des „Schwarzmarktes“ einklinken und mithören. So wurde aus dem Wissensaustausch, den der Kongress beflügeln will, zunächst mal eine Performance.
Kleine Lampen auf jedem Tisch. Das Restaurant im Haus der Kulturen der Welt erinnert an diesem Abend an eine Bibliothek, nur dass gesprochen wird statt gelesen. 100 Experten des Tanzes und angrenzender Forschungsgebiete stehen zur Verfügung – für einen Euro kann man sich eine halbe Stunde Gesprächszeit mit ihnen kaufen. Kaum switcht man sich mit dem Kopfhörer durch die Zweiergespräche an den Tischen, ergeben sich ungeahnte Kollisionen in dieser Livecollage. „Schmerz hilft gegen Schmerz“, das war die Stimme von Nadja Saidakova, nach dem Umgang mit Muskelkater befragt. „Aus dem Bauch raus“ kommt von einem energetischer Psychologie gewidmeten Tisch, der mit Selbsthilfe bei Lampenfieber befasst ist. An den Tischen 16 und 32 geht es plötzlich zeitgleich um Genderfragen: „Meinem Sohn würde ich diesen Weg nicht zumuten.“ Und: „Tänzer und Tänzerinnen haben unterschiedliche Chancen für einen Berufsweg nach dem Tanz.“
Wissen ist keine Kompaktnahrung, die ein Kongress gebündelt verabreichen kann. Wohl aber kann er sichtbar machen, wie Wissen sich verzweigt, wo Suchbewegungen stattfinden, wo Fragen und Probleme sich gleichen und wo Haltungen sich nicht miteinander vertragen. Der Tanzkongress, zu dem die Kulturstiftung des Bundes und das Haus der Kulturen der Welt für vier Tage eingeladen haben, wendet sich in erster Linie an ein Fachpublikum aus Tänzern, Choreografen, Tanzwissenschaftlern, Historikern, Veranstaltern, Dramaturgen, Therapeuten, Journalisten. Aber er tut das in der Hoffnung, dass die interne Auseinandersetzung die Stimme des Tanzes nach außen stärkt.
Zwei Reden und zwei Tanzstücke gingen dem „Schwarzmarkt für nützliches Wissen“ am Abend der Eröffnung voraus. Bernd Neumann, Staatsminister für Kultur und Medien, war gekommen, um sein Problembewusstsein für die schwache Position des Tanzes im tradierten Theaterbetrieb und die prekären Existenzen der Künstler zu zeigen. Der Tanzkongress ist Teil des Tanzplans, einer Fördermaßnahme der Kulturstiftung des Bundes. Neumann sagte aber auch, dass der Bund trotz Tanzplan Einsparungen in den Kulturhaushalten der Länder weder aufhalten noch kompensieren kann. Die Idee des Kongresses geht vor allem auf Hortensia Völckers zurück, künstlerische Direktorin der Kulturstiftung. Sie schlug in ihrer Rede einen großen historischen Bogen zu den Tanzkongressen der Weimarer Republik und erzählte von einem Neurophysiologen, der untersuchte, wie das Gehirn eines Zuschauers an den motorischen Leistungen der Tänzer partizipiert, und auf erstaunliche Resonanzschleifen im Vorstellungsvermögen stieß. „Tanz steckt an“, fasste Völckers zusammen.
Das konnte man dann gleich ausprobieren: Vier Tänzer der Forsyhte Company traten mit dem kurzen Stück „N.N.N.N.“ auf, einer witzigen, aus dem Handgelenk geschüttelten Choreografie. Der Vorstellungskraft kamen hier die Laute zu Hilfe, das Atmen, Seufzen und Schnaufen, das den Verlauf von Bewegungs- und Energiekurven nachmalte. Das zweite Stück, ein Solo von Sasha Waltz für Vladimir Malokhov, blieb kulturpolitisch-symbolischer Wille, Grenzen zwischen Tanzsparten zu überwinden. Als Dialog wenig gelungen, wirkte es wie der angestrengte Versuch eines Ballettstars, sich anderen Ansätzen zu öffnen.
Begleitprogramm zum Kongress im HAU, Dock 11, an der Schaubühne, den Sophiensælen und den Opernhäusern; Infos unter www.tanzkongress.de