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Archiv-Artikel

Der Testamentsvollstrecker

Mit seinem Album „Youth“ macht der selbst ernannte „Hasidic Reggae Superstar“ Matisyahu rasant Karriere in den USA – und selbst dort reibt man sich vor Verblüffung die Augen über einen jüdischen Musiker, der über den Umweg als Rastafari zum Reggae fand. Und, nebenbei, zum Glauben

von ARNO FRANK

Matisyahu ist ein Phänomen. Mit seinem Album „Youth“ steht der 26-jährige Newcomer seit sechs Wochen unangefochten an der Spitze der Billboard-Reggae-Charts, seine erste Single „King Without A Crown“ stieg so rasch in die US-Top-Ten, als wäre sie mit Helium gefüllt, bei Oprah Winfrey und Jay Leno und MTV hat er sie vorgestellt. Nichts Ungewöhnliches, ein Sommerhit eben, frühlingshaft dahinfedernd und von fingerschnippender Fröhlichkeit. Mag sein, dass wir einen so süffigen und sonnigen und süchtig machenden Reggae seit den Siebzigerjahren nicht mehr gehört haben. Womit das Phänomen Matisyahu aber noch immer nicht erklärt ist. Wenn das Phänomen, wie alle Erscheinungen, erst durch den optischen Eindruck greifbar wird, dann muss man Matisyahu einfach gesehen haben: Mit Vollbart, Mantel, Hut und Schläfenlocken setzt der Musiker in der bunten Welt des Pop ein seltsames Zeichen. Matisyahu heißt eigentlich Matthew Miller und lebt als streng gläubiger Jude in New York.

Auf dem Trampelpfad

So abseitig das Bild eines „rappenden Reggae-Rabbi“ auf den ersten Blick sein mag, so schlüssig erscheint es bei näherer Betrachtung. Aufgewachsen in einer weltlich orientierten Familie, machte sich Matthew Miller zunächst auf den üblichen Selbstfindungs-Trampelpfad der alternativ angehauchten US-Jugend: Dreadlocks ließ er sich wachsen, kiffte bis zum Umfallen und folgte im Einmannzelt der Hippie-Gruppe Phish. Um sich von deren endlosen Gitarren-Sessions zu erholen, hörte Miller am liebsten Bob Marley: „Ich verstand, dass es bei dieser Musik darum geht, die eigenen Wurzeln zu finden, um ihnen zu folgen – und nicht dem vorgezeichneten Mainstream“, sagt er, und: „Wer Reggae verstehen will, kommt um die Kultur der Rastafari nicht herum.“

Und wer sich mit der Kultur der Rastafari beschäftigt, entdeckt früher oder später auch den Geheimgang, der von Jamaika nach Israel führt – mit einer Stelle aus dem Alten Testament als verstecktem Eingang. Demnach soll die Königin von Saba bei ihrem Besuch in Israel von König Salomon ein Kind empfangen haben, was von den Rastafari als Beleg interpretiert wird, die Schwarzen seien die wahren Kinder Israels – daher auch die kuriose Verehrung, die dem äthiopischen Kaiser Haile Selassie I. in Jamaika entgegengebracht wurde. Das äthiopische Kaiserhaus geht angeblich auf die Königin von Saba zurück, Haile Selassies offizieller Titel lautete denn auch „König der Könige, Herr der Herren“ sowie „Erobernder Löwe von Juda“.

Demnach wäre der „Rastafarianismus“ eine selbst gebastelte Sklavenreligion, mit der die ihrer Heimat entrissenen Afrikaner das Trauma der totalen kulturellen Entwurzelung zu verarbeiten suchten – immer das Ideal einer Rückkehr nach „Zion“ vor Augen, in ein idealisiertes Afrika also. „Jah“, der Gottesbegriff der Rastafari, leitet sich direkt vom jüdischen Jahwe ab.

Die Parallelen zum Exodus der Juden dämmerten irgendwann wohl auch Matthew Miller. Spätestens mit 19, als er in New York von einem chassidischen Rabbi zu Tora-Studien eingeladen wurde, besann er sich auf seine eigentlichen Wurzeln – zumal ihm diese strenge, aber dennoch weltzugewandte Spielart des Judentums erlaubte, weiterhin Musik zu machen.

Matthew Miller änderte seinen Namen in Matisyahu, dem hebräischen Wort für „Matthias“, das im ursprünglichen Sinne „der von Gott Geliebte“ bedeutet, tauschte die Rasta- gegen die Schläfenlocken und nannte sich selbst ganz offensiv einen „Hasidic Reggae Superstar“.

Dass der Spagat zwischen dem Dasein als Popstar und dem Leben als Strenggläubiger seine Tücken hat, nahm Matisyahu in Kauf. Bei Konzerten ist er ständig darauf bedacht, nicht in Berührung mit seinen weiblichen Fans zu kommen. Und um den Versuchungen zu widerstehen, heiratete er sogar auf Anraten seines Rabbis.

Schlag auf den Tisch

Die theologischen Studien schlagen sich auch in den Texten von „Youth“ nieder, das am 12. Mai in Deutschland veröffentlicht wird: „3.000 years with no place to be/ And they want me to give up my milk and honey“, klagt er in „Jerusalem“ und rät seinen – extrem jungen – Fans zu sittlicher Enthaltsamkeit, Disziplin und anderen bewährten Werten: „Young man, the power’s in your hand/ slam your fist on the table and make your demand/ you better make the right move“ heißt es im Titelstück, das übrigens, wie die meisten Songs auf der Platte, vom Reggae-Dub-Großmeister Bill Laswell produziert wurde.

Der Schlüssel zum Phänomen liegt vielleicht in einer ganz unverfänglichen Textzeile: „I stand with integrity“, was, bei Licht betrachtet, doch eine recht vollmundige Behauptung ist in einem Genre, das von Blendung und Oberflächlichkeit lebt. Und womöglich ist es wirklich die so besungene Integrität, mit der Matisyahu bei seinem Publikum eine Lücke von unerwarteten Ausmaßen füllt.

Die Mittel, mit denen Matisyahu den Exodus und das Martyrium seines Volkes schildert, sind dabei eher von US-amerikanischer Unbefangenheit: „Burn in the oven in this century/ And the gas tried to choke, but it couldn’t choke me/ I will not lie down, I will not fall asleep“, verspricht er in „Jerusalem“.

Jamaika hat er übrigens bis dato noch nie besucht, Deutschland auch nicht. Am 18. Mai spielt Matisyahu in Berlin.